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Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Titel: Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karim Miské
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Kollegen anzurufen. Niemand hebt ab. Sie hinterlässt keine Nachricht, legt auf und ruft erneut an. Nach dem dritten Klingeln nimmt er das Gespräch an.
    »Mmmmh.«
    »Jean, kannst du in einer halben Stunde bei mir sein? Es ist wichtig.«
    Sie hört, wie er jemandem etwas zuflüstert.
    »Tut mir wirklich leid, wenn ich ungelegen komme, aber ich brauche dich hier wirklich. Ich will mal so sagen: Die Ereignisse überschlagen sich gerade. Ich erkläre dir alles. Und liebe Grüße an Léna.«
    »Bin schon unterwegs.«
    Aïcha steht auf, geht um den Tisch herum, reicht Bintou ein Taschentuch und streichelt ihr über das Haar. Ihr Blick bleibt an dem Bild hängen, das schon wenige Minuten zuvor ihre Freundin fasziniert hat. Der polygame, indische Gott. Rachel lässt sie eine Weile schauen, ehe sie erklärt:
    »Das ist Muruga, der Bruder von Ganesh. Ich habe es in La Chapelle gekauft, in einem kleinen, von Keralesen betriebenen Laden. Ich wollte immer schon mal nach Kerala. Vielleicht wird sich dieser Traum nie erfüllen, aber dann gehört er zu denen, die einen immer wieder antreiben – so, wie man zu Beispiel einen Mann liebt, der das nicht weiß und es auch nie wissen wird, den man aber unbeschadet in einer sehr reinen Ecke seines Herzens bewahrt. Ein Mann, mit dem man sich nicht einmal Sex vorstellt. Für die Fantasie gibt es schließlich die Schauspieler. Männer wie Irfan Khan, Tony Leung oder Charles Berling …«
    »Oder Javier Bardem.«
    Die Worte dringen wie ein Hauch über Bintous volle Lippen.
    »Oder Javier Bardem, ja. Jede von uns hat so ihre Favoriten. Die ich für sehr wichtig halte. Aber Götter und männliche Symbolfiguren sind etwas ganz anderes. In ihnen suchen wir keine Lust. In ihnen finden wir unseren Frieden.«
    Bintou hört hingerissen zu. Sie scheint selbst dann noch zu lauschen, als Rachel längst schweigt. Woher kommt die Nähe zu diesen jungen Frauen, die ihr am Vortag noch unbekannt waren und deren Brüder sich zu Mitwissern eines schrecklichen Verbrechens gemacht haben? Es ist ähnlich wie bei Ahmed: zunächst ein tranceartiger Zustand, dann das Wunder der Begegnung. Das Wunder dieser Ermittlung. Unter dem ewigen Lächeln Murugas im Kreis seiner immer mit göttlicher Lust sowohl körperlich als auch geistig befriedigten Gattinnen entfaltet sich ein Moment magischer Gemeinschaft. Göttliche Befriedigung ist so einfach und so selbstverständlich, dass der Mensch sich müht, sie nie zu erreichen, denkt Rachel.
    Noch zehn Minuten, bis Rébecca anruft. Eine besondere Stimmung liegt in der Luft. Wahre Worte sind gefragt. Plötzlich beginnt Bintou, leise zu deklamieren:
    Wandere ich auch im finstern Tal,
    fürchte ich kein Unheil,
    denn du bist bei mir,
    dein Stecken und dein Stab,
    sie trösten mich.
    Du deckst mir den Tisch
    im Angesicht meiner Feinde.
    Du salbst mein Haupt mit Öl,
    übervoll ist mein Becher.
    Güte und Gnade werden mir folgen
    alle meine Tage,
    und ich werde bleiben im Hause des Herrn
    mein Leben lang.
    Sie verstummt, schließt für eine Sekunde die Augen und sagt:
    »Als Rébecca anfing, sich wie eine fromme Jüdin zu kleiden, tat sie es ihrer Mutter und ihrem Bruder zuliebe. Aber sie wollte auch wissen, woher diese Vorschriften kamen, und las die Bibel. Aus reiner Neugier habe ich mitgelesen und einige Passagen mit ihr zusammen gelernt. Dieser Psalm hat uns berührt. Er ist traurig und schön. Beunruhigend und tröstlich zugleich. Das Merkwürdigste dabei ist, dass ich nie den Koran gelesen habe. Er erschien mir immer als bedrohliches, gefährliches Buch, während mir die Bibel niemals Angst gemacht hat. Sie ist nicht das Buch meiner Religion, also riskierte ich nichts, als ich sie las.«
    Überrascht unterbricht Rachel sie.
    »Der Koran? Bedrohlich? Aber warum?«
    »Dazu muss ich Ihnen ein Geheimnis anvertrauen. Die Geschichte ist passiert, als ich acht Jahre alt war. Wir waren zu Besuch in Stains, bei meiner Cousine Fanta, die damals neun war. Irgendwann haben wir zwei Mädchen uns im Bad eingeschlossen. Ich weiß nicht mehr, wieso und warum, aber plötzlich fragte sie mich, ob ich beschnitten wäre. Weil ich keinen Schimmer hatte, was sie damit meinte, hat sie es mir gezeigt. Ich konnte sehen, dass ihr etwas fehlte, was ich noch besaß. Ich begann zu weinen. Keine Ahnung, ob ich ihret- oder meinetwegen so traurig war, aber ich konnte nicht mehr aufhören. Allerdings konnte ich nicht erklären, warum ich eigentlich weinte. Erst als ich wieder zu Hause war, erzählte ich

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