Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
meiner Mutter, was im Bad passiert war. Meine Mutter tröstete mich und sagte, dass man mir so etwas nie antun würde, obwohl sie selbst als Kind in ihrem Dorf ebenfalls beschnitten worden war. Kopfschüttelnd sagte sie: ›Dabei ist Stains doch nun wirklich nicht Sélibaby. Arme Fanta.‹ Als ich größer wurde, erklärte sie mir, dass der Imam ihres Dorfes in Marokko öffentlich verkündet hatte, dass die Mädchen rein bleiben müssen. Auch im Land der Ungläubigen. Vor allem im Land der Ungläubigen. Ein alter, zahnloser Imam mit einem mächtigen Dickkopf. Zu Fantas Unglück hat ihre Mutter auf den Gottesmann gehört. Dass ich so bin, wie ich bin, verdanke ich der Chance, nicht die Tochter meiner Tante zu sein. Der Chance, unversehrt geblieben zu sein. Es ist nicht so, dass ich mich Fanta überlegen fühle. Überhaupt keinem beschnittenen Mädchen. Darum geht es nicht. Aber ich spüre, dass meine tiefste Identität darin wurzelt, dass ich nicht beschnitten bin. Und das verdanke ich dem Wunsch meiner Mutter, dass ich anders sein sollte als sie. Seltsam, es ist heute das erste Mal, dass ich mit jemand anderem als Aïcha oder Rébecca darüber spreche. Und das erste Mal, dass ich wirklich verstehe, in welchem Maße meine Mutter aus mir die gemacht hat, die ich heute bin.«
Sie blickt die indische Gottheit an und lacht.
Eine Minute nach drei reißt der Klingelton von Skype sie aus ihren Träumereien. Aïcha wirft Rachel einen fragenden Blick zu. Rachel nickt, und Aïcha nimmt das Gespräch an. Ein unscharfes Gesicht erscheint auf dem Bildschirm. Eine schöne junge Frau mit dunklem Haar und heller Haut. Sie blickt ein wenig sorgenvoll. Im Fenster hinter ihr erkennt man, dass der Abend dämmert. Acht bis neun Stunden Zeitverschiebung, vermutet Rachel, wieder ganz Polizistin. Die junge Frau befindet sich also offenbar im Westen der Vereinigten Staaten oder Kanadas.
»Hey, Aïcha, Bintou, seid ihr da? Ich sehe euch nicht.«
»Ja, Rébecca, wir sind da. Der Rechner hier hat keine Webcam, aber wir können dich sehen. Wie ist es dir seit gestern ergangen?«
»So lala.«
»Wir sitzen hier zusammen mit Lieutenant Kupferstein – mit Rachel. Wir haben dir von ihr erzählt. Du kannst ihr alles sagen, sie ist okay.«
»Guten Abend, Rébecca.«
»Guten Abend, Lieutenant.«
»Danke, dass Sie dem Gespräch zugestimmt haben. Es ist sehr wichtig für unsere Ermittlungen und dafür, den Mörder so schnell wie möglich zu fassen.«
»Ich werde tun, was in meiner Macht steht, um Ihnen zu helfen. Lauras Tod hat mir buchstäblich das Herz gebrochen. Ihr ist es zu verdanken, dass ich heute hier bin und dem Leben entkommen konnte, das andere für mich geplant hatten.«
»Können Sie mir das von Anfang an erzählen?«
Rébecca berichtet von ihrer arrangierten Beinahe-Hochzeit und ihrer Flucht mit Hilfe ihrer Freundinnen und vor allem der von Laura. Von den beiden merkwürdigen Begegnungen in New York – zunächst mit Lauras Vater und später mit Dov, ihrem Beinahe-Verlobten. Von ihrem neuen Leben an dieser Universität, wo sie ihre Studiengebühren dadurch begleicht, dass sie Französischstunden gibt. Ein herrliches Leben, wären da nicht der Tod der Freundin und der Verlust der Familie. Rachel hört ihren Bericht bis zum Ende an, ehe sie Rébecca bittet, ihr zu beschreiben, wie Laura reagierte, als sie am Grand Central sah, wie ihr Vater die junge Unbekannte küsste.
»Zunächst war sie schockiert, dann wurde sie sehr wütend. Plötzlich sprudelten all der Hass und all die Gewalt aus ihr heraus, die sie mit ihren Eltern in Verbindung brachte. Sie erzählte mir, wie sie an ihrem achtzehnten Geburtstag ihr Elternhaus verlassen hatte. Ihr Vater war auf Reisen, er hielt sich in Brooklyn am Hauptsitz der Zeugen Jehovas auf. Bei den Zeugen werden Geburtstage nicht gefeiert – für sie ist das eine heidnische Praxis. Geduldig hatte Laura diesen Tag abgewartet, um endlich gegen die Zwänge aufbegehren zu dürfen, in denen sie aufgewachsen war. Sie machte sich einen Fondant au Chocolat mit Glasur, auf den sie ›Herzlichen Glückwunsch, Laura‹ schrieb. Als ihre Mutter aus dem Königreichssaal zurückkehrte, war der Tisch mit zwei Tellern gedeckt, es gab Champagner, und rings um den Kuchen brannten achtzehn Kerzen. Laura saß am Tisch, lächelte ihrer Mutter zu und blies die Kerzen aus. Ehe sie wieder zu Atem kam, hatte Mathilde Vignola sich schreiend auf den Tisch gestürzt, zum Messer gegriffen und war auf Laura losgegangen. Laura
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