Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Macht und unserer Straffreiheit sicher waren. Aber jetzt reicht es! Ab sofort denken wir nach, bevor wir handeln. Unser Ziel ist es nicht, zu Racheengeln zu mutieren.«
»Sondern?«
Aïssa blickt seinem Vorgesetzten in die Augen. Ein seltsames Licht flackert in seinen Pupillen. Er schießt. Mit dem Schalldämpfer ist von der Kugel lediglich ein leises »Plopp« zu hören. Von geradezu bedrückender Banalität. Rings um den Scenic brandet der Verkehr, als sei nichts geschehen. Niemand sieht, wie Benamer Enkell aus dem Fahrersitz nach hinten wuchtet. Der stellvertretende Commissaire setzt sich ans Steuer, lässt den Wagen an, stößt einen unergründlichen Seufzer aus und legt den ersten Gang ein. Über die Stadtautobahn sind es nur zehn Minuten bis zum Lagerhaus am Boulevard MacDonald. Und im Bottich ist noch genügend Platz.
46
Mercator und van Holden sitzen auf Klappstühlen und warten. Der eine ist klein, rundlich und strahlt eine Mischung aus Gutmütigkeit und Bedrohung aus, der andere ist groß, rothaarig und wirkt wie ein verwirrter Wissenschaftler. Der schwarze Behälter vor ihnen ist in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Genau das mögen die beiden Männer: Die Zeit dehnt sich, aber sie wissen, dass sie einer Vollendung entgegensehen. Warum sind sie sich dessen so sicher? Woher wissen sie, dass ihre Beute ihnen ganz von selbst ins Netz gehen wird? Aus dem gleichen Grund, aus dem sie in Führungspositionen gelandet sind, ohne dabei von jemandem begünstigt worden oder bei einem Vorgesetzten besonders beliebt gewesen zu sein. Wie lange sitzen sie schon hier? Drei Stunden, zehn Minuten, drei Tage? Sie können es nicht einmal genau sagen. Ihre Munition besteht aus M & M, Marshmallows, Eistee und 9 mm Parabellum. Um am Leben zu bleiben.
Vom Tatort aus ist Mercator auf direktem Weg in das kleine Lokal gegangen, in dem van Holden jeden Morgen sein Frühstück einnimmt, bevor er in seinem Chefsessel in der Polizeidirektion Platz nimmt. Er sagte seinem Vorgänger nicht mehr, als dass er mit Enkell und Benamer verabredet wäre und dass es gut wäre, wenn er ihn begleiten könnte. Sie haben den Bus 75 bis zum Boulevard MacDonald genommen, zu einer Adresse, die van Holden zufällig zwei Monate vorher ausfindig gemacht hat. Dank seiner langen Recherchearbeit über korrupte Polizisten im Achtzehnten weiß er fast immer sofort, wo es sich lohnt nachzuhaken. In diesem Fall hat es am viel zu niedrigen Verkaufspreis eines Lagerhauses gelegen. Der Besitzer war ein in einen Gammelfleischskandal verwickelter Metzger, der nach dem überraschenden Rückzug der Aussage des einzigen Zeugen tatsächlich freigesprochen worden war. Bei dem Käufer handelte es sich um einen gewissen Ezzedine Moussa aus Saint-Chamond. Der wiederum war zusammen mit Aïssa Benamer zur Schule gegangen und hatte in der Zwischenzeit ein paar kleinere Probleme mit der Justiz gehabt. Van Holden hatte seine Entdeckung irgendwann beiläufig im Gespräch mit Mercator erwähnt, der sich daran erinnerte, als er die Aussage von Ruben Aboulafia las: Das im Besitz von Ezzedine Moussa befindliche Lagerhaus grenzte unmittelbar an das der Firma Kosher Facilities, wo der junge Mann die Kartons mit der Wunderdroge abgeliefert hatte. Das Schloss ließ sich leicht mit einem Generalschlüssel öffnen, und zwei Klappstühle – Glück oder Vorzeichen? – schienen an der hinteren Wand geradezu auf sie zu warten. Die beiden alten Kameraden brauchten sich nur noch zu setzen – die vorschriftsmäßigen Manurhin-Revolver auf den Knien und M&Ms und Marshmallows in Reichweite.
Ein Schlüssel dreht sich im Schloss. Die Tür öffnet sich. Ein Mensch keucht angestrengt. Metall- und Luftgeräusche vermischen sich. Benamer sieht sie nicht. Er müht sich mit der Sackkarre ab. Allein ist es weitaus schwieriger. Die Leiche schwankt, mal nach rechts, mal nach links. Plötzlich hört er ein leises Klicken. Dann ein zweites. Seine Augen haben sich noch nicht an das Halbdunkel gewöhnt. Er braucht ein paar Sekunden, ehe er die Kollegen erkennt. Er lässt die Sackkarre los, die scheppernd umfällt, und macht Anstalten, nach seiner Beretta zu greifen.
»Das würde ich an deiner Stelle nicht tun, Aïssa.«
Und tatsächlich – Aïssa tut es nicht. Plötzlich fühlt er sich müde. Ungeheuer müde. Widerstandslos lässt er sich Handschellen anlegen. Im Grunde fühlt er sich erleichtert.
Von diesem Augenblick an geht alles fast wie von selbst. Wie so oft gegen Ende einer Ermittlung, wenn die
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