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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Freyby hielt das Problem offensichtlich für gelöst, zogwieder seinen Folianten aus der Tasche und beachtete mich nicht mehr. Ich dachte: Gewiß beherrschen die englischen Butler ihr Metier aus dem Effeff, aber etwas könnten sie doch von russischen Bediensteten lernen – Herzlichkeit. Sie dienen ihrer Herrschaft, aber wir lieben sie. Wie kann man einem Menschen dienen, wenn man keine Liebe für ihn empfindet? Dann handelt man nur mechanisch, als wäre man kein lebendiger Mensch, sondern ein Automat. Freilich sagt man, daß die englischen Haushofmeister nicht ihrem Herrn dienen, sondern dem Haus, so wie Katzen weniger Anhänglichkeit an den Menschen als vielmehr an das Gebäude empfinden. Solch eine Anhänglichkeit ist nicht nach meinem Geschmack. Und Mr. Freyby kam mir schon recht sonderbar vor. Obwohl, dachte ich, bei einem derartigen Herrn müssen auch die Diener wunderlich sein. Es hat auch sein Gutes, daß mon collègue anglais so träge ist, dann kommt er mir weniger in die Quere.
     
    Ein richtiges Mittagessen herzurichten, dazu reichte die Zeit nicht, darum hatte ich angeordnet, zur Ankunft Ihrer Hoheiten den Tisch bescheiden – à la picnic – zu decken: das kleine Silber, das einfache Meißner Service, keine warmen Gerichte. Die Speisen bestellte ich telephonisch aus dem Delikatessenladen von Snaiders: Schnepfenpastete, Piroggen mit Spargel und Trüffeln, Fleisch in Aspik, Fisch, geräucherte Poularden und zum Nachtisch Obst. Blieb zu hoffen, daß sich Maître Duval bis zum Abend in der Küche eingerichtet hatte und das Abendessen würdiger ausfiel. Zwar wußte ich, daß Großfürst Georgi und Großfürst Pawel den Abend beim Zaren verbringen würden, der halb sechs eintreffen und vom Bahnhof direkt zum Petrowski-Schloß fahren sollte. DieAllerhöchste Anreise war mit Bedacht auf den sechsten Mai festgesetzt worden, denn es war der Geburtstag des Herrschers. Schon seit Mittag läuteten die Kirchenglocken, von denen es in Moskau unzählige gab, die öffentlichen Bittgebete für Gesundheit und langes Leben Seiner Majestät und der gesamten kaiserlichen Familie ein. Ich nahm mir ein übriges Mal vor, über der Vortreppe einen Baldachin mit dem Buchstaben N anbringen zu lassen. Es könnte ja sein, daß uns Seine Kaiserliche Majestät mit einem Besuch beehrte, dann war ein solches Zeichen verwandtschaftlicher Aufmerksamkeit sehr angebracht.
    In der fünften Stunde fuhr Großfürst Georgi mit seinem Sohn in Paradeuniform zum Bahnhof, Großfürstin Xenia sah im kleinen Salon, der früher offenbar als Bibliothek genutzt worden war, alte Bücher durch, Lord Banville schloß sich mit Mr. Carr in seinem Zimmer ein, nachdem er angeordnet hatte, ihn heute nicht mehr zu stören, und ich nahm zusammen mit Mr. Freyby einen Imbiß ein.
    Uns bediente der Lakai Semljanoi, einer von den Moskauern. Er war recht linkisch, gab sich aber alle Mühe und starrte mich mit großen Augen an, offenbar hatte er schon von Afanassi Sjukin gehört. Ich gebe zu, daß mir das schmeichelte.
    Bald, nachdem sie ihren Zögling zu einem Mittagsschlaf hingelegt hatte, gesellte sich auch die Gouvernante, Mademoiselle Déclic, zu uns. Sie hatte zwar schon mit den Hoheiten gespeist, aber der quirlige Junge ließ ihr ja kaum Zeit zum Essen, ständig trieb er Unfug: Mal warf er mit Brot, mal versteckte er sich unter dem Tisch und mußte von dort hervorgezogen werden. Kurzum, Mademoiselle trank gern mit uns Tee und ließ sich das köstliche Gebäck von Filippow schmecken.
    Ihre Anwesenheit kam uns sehr gelegen, denn sie sprach Englisch und war eine vorzügliche Dolmetscherin.
    Ich fragte den Engländer, um ein Gespräch in Gang zu bringen: »Arbeiten Sie schon lange als Haushofmeister?«
    Er antwortete mit einem Wort, und Mademoiselle übersetzte: »Ja.«
    »Sie können unbesorgt sein, die Sachen sind ausgepackt, es gab keine Probleme«, sagte ich nicht ohne Vorwurf, denn Mr. Freyby hatte sich dem Auspacken völlig ferngehalten und war bis zum Schluß dieser verantwortungsvollen Operation mit seinem Buch in der Kutsche sitzen geblieben.
    »Ich weiß«, war die Antwort.
    Ich wurde neugierig: Äußerte sich in dem Phlegma des Engländers unglaubliche, alle denkbaren Grenzen übersteigende Faulheit oder höchste Butlermeisterschaft? Ohne daß er einen Finger gerührt hatte, waren die Sachen ausgeladen, ausgepackt und aufgehängt worden, und alles war an seinem Platz!
    »Hatten Sie denn schon Gelegenheit, in den Zimmern von Mylord und Mr. Carr

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