Entführung des Großfürsten
lassen, und die müssen als Gegenleistung unverzüglich über Waffen und andere verdächtige Gegenstände berichten, die sie in den Taschen der Leute finden. Der König ist bereitwillig auf diese Bedingung eingegangen und hat erklärt, er sei ja in gewissem Sinne auch ein Alleinherrscher, und Monarchen müßten einander helfen. Ich verbürge mich nicht für den Wortlaut, aber das war der Sinn.«
Diese Mitteilung entspannte etwas die düstere Stimmung der Versammelten, und durch die lächelnden Mienen ermuntert, fügte Großfürst Simeon mit verschmitzter Miene noch hinzu: »Sein Versprechen hat der König von Chitrowka mit dem Ausspruch bekräftigt: ›Oder ich will ein Frischling sein.‹ Lassowski sagt, das ist ein ernst zu nehmender Banditenschwur.«
»Wie, wie?« fragte der Zar lebhaft. »Frischling? Das muß ich Alice 10 erzählen, es wird ihr gefallen.«
»Nicky, Sam«, sagte Großfürst Kirill streng, »wir wollen Herrn Fandorin zu Ende anhören.«
»Der König ist nicht der einzige Anführer in Chitrowka, und ein A-Alleinherrscher ist er schon gar nicht.« Obwohl Fandorin auf den Einwurf des Generalgouverneurs antwortete, blickte er diesen nicht an, sondern den Zaren. »Man munkelt sogar, daß seine Tage gezählt sind und daß man ihn über kurz oder lang ›ausmustern‹ wird, das heißt, die ›Anspitzer‹, junge rücksichtslose Banditen, die in Chitrowka und auf dem Sucharewka-Markt immer mehr den Ton angeben, werden ihn umbringen. Es gibt da die Bande Raneta, die sich mit einer neuen Sache, dem Opiumhandel, beschäftigt, und es gibt einen gewissen ›Knorpel‹, der auf ›nasse Sachen‹ und Erpressung spezialisiert ist, außerdem macht ein gewisser ›Stumpf‹ von sich reden, in dessen Bande Konspiration und Disziplin besser funktionieren als in der neapolitanischen Camorra.«
»Stumpf?« fragte der Zar erstaunt. »Was für ein seltsamer Name.«
»Ja. Eine m-malerische Gestalt. Seine rechte Hand ist amputiert, und der Stumpf endet in einer Scheibe, in die schraubt er je nach Bedarf einen Löffel, einen Haken, ein Messer oder eine kleine Kette mit einem Eisenapfel am Ende. Eine schreckliche, tödliche Waffe. Die ›Anspitzer‹, Eure Majestät, scheuen kein Blut, sie erkennen die Gesetze der Diebswelt nicht an, und der König ist für sie keine Autorität. Es ist zu vermuten, daß Penderecki zu einem von ihnen Verbindung aufgenommen hat. Ich beobachte ›Narbe‹ und seine Männer seit Warschau, aber sehr vorsichtig, um sie nicht mißtrauisch zu machen. Er war zweimal in Chitrowka in der Kneipe ›Serentui‹, die dafür bekannt ist, daß sie dem König keine Abgaben zahlt. Ich hatte gehofft, daß ›Narbe‹ mich zum Doktor führen würde, aber vergebens. In den zehn Tagen, die sichdie Warschauer in Moskau aufhielten, ist Penderecki jeden Tag aufs Postamt gegangen, zum Schalter für postlagernde Briefe, außerdem hat er sich oft in der Nähe des Alexandra-Schlosses und des Neskutschny-Parks herumgetrieben. Mindestens viermal ist er über das Gitter geklettert und um die Eremitage gestrichen. Wie ich jetzt weiß, hat er nach einem geeigneten Platz für einen Hinterhalt Ausschau gehalten. Gestern lungerten er und seine Spießgesellen seit dem Mittag am Parkausgang zur Großen Kalugaer-Straße, in der Nähe wartete eine Kutsche. In der siebenten Stunde fuhr die Equipage mit dem Wappen des Großfürsten aus dem Tor, und die Warschauer f-fuhren hinterher. Ich begriff, daß die Sache sich ihrer Auflösung näherte, und folgte ihnen mit meinem Gehilfen in zwei Droschken. Später entstiegen der großfürstlichen Equipage zwei Damen, ein Knabe und ein Mann in einem grünen Leibrock.« Fandorin warf einen Blick in meine Richtung. »Penderecki, der sich inzwischen einen falschen Bart angeklebt hatte, so daß auch ich ihn nicht gleich erkannte, schlenderte hinter der Gruppe her. Die Kutsche mit den übrigen Banditen folgte langsam. Da schlug ich mit meinem Gehilfen eine a-andere Richtung ein und ging der Gruppe entgegen. Ich hoffte, auf Lind zu treffen …«
Fandorin seufzte bekümmert.
»Wie konnte ich mich nur so v-verrechnen! Ich kam nicht auf die Idee, daß sie nicht nur eine, sondern zwei Kutschen hatten. Natürlich. Lind hatte zwei Kutschen bereitgehalten, weil er das Mädchen und den Jungen entführen wollte, um sie dann in verschiedene Verstecke zu bringen. Darum hatte sich ›Narbe‹ nur der Großfürstin bemächtigt. Für den Knaben war die zweite Kutsche vorgesehen. Wahrscheinlich war auch
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