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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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der Junge tot.«
    Fandorin preßte wieder die Lippen zusammen und schwieg eine ganze Weile. Alle warteten geduldig, bis er sich beruhigt hatte – Personen der kaiserlichen Familie sind nachsichtig gegengewöhnliche Sterbliche, die nicht solche Selbstbeherrschung besitzen wie sie selbst.
    »Ich begriff nicht gleich, warum der Junge so reglos dasaß und den Kopf tief gesenkt hielt. Erst als ich nahe herantrat, sah ich, daß in seinem Herzen ein schmales Stilett steckte! Ich traute meinen A-Augen nicht. Denn als ich mit Lind in dem Zimmer gewesen war, hatte ich es in Erwartung einer Falle auf eine verdeckte Luke oder eine Geheimtür abgesucht und nichts Verdächtiges entdeckt. Erst später erinnerte ich mich, daß Lind mir den Vortritt gelassen hatte und bei dem Stuhl stehengeblieben war – eine Sekunde, nicht länger. Aber das hatte ihm genügt. Welche Genauigkeit des Stoßes, welch kaltblütige Berechnung!«
    Mir schien, daß in Fandorins Stimme außer Bitterkeit und rasender, auch mit der Zeit nicht nachlassender Wut unwillkürlich Bewunderung für die Gewandtheit dieses satanischen Doktors mitschwang.
    »Damals beschloß ich, mich erst wieder um andere F-Fälle zu kümmern, wenn ich mit dem Doktor abgerechnet habe. Ich verhehle es nicht: Eine wesentliche Rolle bei diesem Entschluß spielt verletzte Eigenliebe und meine angeknackste Reputation. Aber nicht nur Eigenliebe …« Fandorin runzelte die Stirn. »Man muß diesem Mann Einhalt gebieten, denn er ist ein Genie des Bösen, ausgestattet mit überaus reicher Phantasie und grenzenlosem Ehrgeiz. Manchmal scheint mir, daß er sich das Ziel gesetzt hat, den Ruhm des größten Verbrechers aller Zeiten zu erwerben, und an K-Konkurrenten mangelt es auf diesem Gebiet wahrhaftig nicht. Ich habe schon seit längerem befürchtet, daß er früher oder später eine Katastrophe von nationalem, vielleicht sogar internationalem Ausmaß heraufbeschwören könnte. Genau das ist nun ei-eingetreten …«
    Er verstummte wieder.
    »Setzen Sie sich, Erast Petrowitsch«, sagte Großfürst Kirill, und ich begriff, daß Fandorins Rede Seine Hoheit beeindruckt hatte; aus der Befragung wurde eine Unterhaltung. »Erzählen Sie, wie Sie Jagd auf Doktor Lind gemacht haben.«
    »Ich habe ganz New York auf den Kopf gestellt, damit aber nur erreicht, daß der Doktor sein Hauptquartier aus der Neuen Welt in die Alte verlegt hat. Ich will Euer Majestät und Ihre Hoheiten nicht mit der Beschreibung meiner Suche ermüden, doch nach einem halben Jahr gelang es mir, Lind in London aufzuspüren. Und ich sah den Doktor ein zweites Mal, genauer, seinen Schatten, als er vor seinen Verfolgern durch einen T-Tunnel der Londoner Untergrundbahn floh und eine frappierende Treffsicherheit bewies. Mit zwei Schüssen streckte er zwei Constabler von Scotland Yard nieder, und mit der dritten Kugel hätte er beinahe mich ins Jenseits befördert.« Fandorin hob eine schwarze Haarsträhne an, und an seiner Schläfe wurde der schmale weißliche Streifen einer Narbe sichtbar. »Nicht der Rede wert, ein Streifschuß, aber ich verlor kurz das Bewußtsein, und Lind konnte entkommen … Ich folgte ihm von einem Land ins andere, und immer kam ich eine Nasenlänge zu spät. In Rom, das war vor knapp einem halben Jahr, war der Doktor plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Erst vor zwei Wochen erfuhr ich aus zuverlässiger Quelle, der bekannte Warschauer Bandit ›Narbe‹ habe sich gebrüstet, daß Doktor Lind ihn für ein ganz großes Ding nach Moskau eingeladen habe. Als russischer Untertan kannte Penderecki die Verbrecherwelt Moskaus – die von Chitrowka und die von Sucharewka. Wahrscheinlich war er aus eben diesem Grund w-wichtig für Lind, der nie zuvor in Rußland agiert hatte. Ich habe mir die ganzeZeit den Kopf zerbrochen, was ihn in das patriarchalische Moskau gelockt haben mochte. Jetzt ist es klar …«
    »Ausgeschlossen, völlig ausgeschlossen!« sagte Großfürst Simeon zornig, wandte sich aber nicht Fandorin zu, sondern dem Zaren. »Meine Gauner aus Chitrowka und Sucharewka würden sich niemals an einem Anschlag auf die Zarenfamilie beteiligen! Stehlen, töten – jederzeit. Aber die Treue zum Thron liegt diesen Ganoven im Blut! Mein Lassowski hat mit Hilfe von Kriminellen mehrfach Terroristen dingfest gemacht. Und für die Zeit der Krönungsfeierlichkeiten hat er eine Art Gentleman’s Agreement mit dem Anführer aller Diebe von Chitrowka geschlossen, mit dem König: Die Polizei wird die Taschendiebe in Ruhe

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