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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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hatte die Überzeugung geäußert, daß Linds Antwort nicht auf sich warten lassen werde: mittels Lichtsignalen, Telegraph (im Alexandra-Schloß gab es einen Apparat), Telephon oder auf ganz ungewöhnliche Weise. Einmal habe Lind unter ähnlichen Umständen eine Nachricht mit einem Pfeil aus großer Entfernung durchs Fenster geschossen.
    Man stelle sich das vor – der Herrscher von ganz Rußland, der General-Admiral der Flotte, der Befehlshaber der kaiserlichen Garde und der Moskauer Generalgouverneur warteten geduldig darauf, daß irgendein Gauner geruhte, ihnen zu antworten! Ich bin sicher, daß in der russischen Geschichte seit den Tilsiter Verhandlungen mit dem Korsen nichts Derartiges vorgekommen ist, aber Napoleon war immerhin Kaiser.
    Um die Zeit zu nutzen, instruierten die Großfürsten ihren allerhöchsten Neffen, was den Empfang der ausländischen Gesandten und kaiserlichen Personen betraf, die zu den Feierlichkeiten anreisen würden. In solchen Begegnungen besteht der politische Sinn einer Krönung, denn unter dem Deckmantel protokollarischer Audienzen werden nicht selten heikelste Fragen zwischenstaatlicher Beziehungen geregelt, diplomatische Demarchen unternommen, neue Allianzen geschlossen.
    Zweifellos war Seine Majestät noch recht unerfahren in solchen Feinheiten und bedurfte der Anleitung, zumal der verstorbene Zar, der von den geistigen Fähigkeiten seines Sohnes nicht sehr überzeugt war, es nicht für nötig befunden hatte, ihn in die Geheimnisse der höheren Diplomatie einzuweisen. So hatte der neue Herrscher erst nach seinem Machtantritt, und auch dann nicht sofort, erfahren, daß die russische Außenpolitik insgeheim die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen hatte: Obwohl wir dem Schein nach mit dem deutschen Kaiser befreundet blieben, hatten wir einen inoffiziellen Nichtangriffspakt mit Deutschlands ärgstem Feind Frankreich geschlossen. Und das war bei weitem nicht die einzige Überraschung für den jungen Thronfolger.
    Die Instruktionen waren recht heikler Natur, und nachdem ich mich vergewissert hatte, daß auf dem Tisch alles Notwendige vorhanden war, hielt ich es für angezeigt, mich zu entfernen. Das Heikle bestand weniger in geheimen Mitteilungen als im zutiefst familiären Ton, den das Gespräch angenommen hatte. Es war nämlich so, daß Seine Majestät die Zusammenhänge nicht allzu rasch erfaßte und daß die Großfürsten allmählich die Geduld verloren und sich ihrem Neffen gegenüber Äußerungen erlaubten, die unter nahenVerwandten angängig, in Gegenwart von Dienern aber undenkbar sind.
    Nun ja, ich hatte meine eigenen Gäste, die zwar weniger berühmt, aber dafür weitaus anspruchsvoller waren. Nachdem ich Herrn Fandorin, Oberst Karnowitsch und den Fürsten Glinski in den großen Salon geleitet hatte, wo ihnen mein Gehilfe Somow Kaffee und Zigarren reichte, suchte ich die Bedienstetenstube auf, einen kleinen gemütlichen Raum im Erdgeschoß, neben der Küche gelegen. Dort waren beim Teetrinken versammelt: Foma Anikejewitsch, der Haushofmeister des Generalgouverneurs, Luka Jemeljanowitsch, der Haushofmeister des Großfürsten Kirill, Dormidont Selesnjow, der Kammerdiener Seiner Majestät, und Fandorins Japaner Masa. Ich hatte Mademoiselle Déclic gebeten, hin und wieder nach meinen Gästen zu sehen, damit sie sich nicht vernachlässigt fühlten, auch um die arme Frau abzulenken, die von dem Unglück ganz niedergeschlagen war. Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß es bei schwerem seelischem Leid kein besseres Mittel gibt, als ganz profane Pflichten zu erfüllen. Das hilft, sich in die Gewalt zu bekommen.
    Als ich den Raum betrat, sah ich dort außer der blassen, aber scheinbar völlig gefaßten Gouvernante auch Mr. Freyby, der etwas abseits von der übrigen Gesellschaft saß, das obligate Buch in der Hand. Das war nicht verwunderlich. Draußen regnete es, die englischen Gentlemen absolvierten ihren erzwungenen Spaziergang, und Mr. Freyby hatte sich wohl in seinem Zimmer etwas einsam gefühlt. Jeder Haushofmeister weiß, daß die Bedienstetenstube etwas wie ein Salon ist oder, wie die Engländer sagen, ein Klub für erfahrene Diener.
    Im ersten Moment verdroß mich die Anwesenheit des Engländers, denn ich hatte die Absicht, mit meinen Gästeneine eigene geheime Beratung abzuhalten, aber gleich darauf fiel mir ein, daß Mr. Freyby ja kein Russisch verstand. Sollte er also sitzen und lesen.
    Uns bediente der neue Lakai Lipps, von dessen Erfahrung und Eignung ich mich schon hatte

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