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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Lind dort, was mich besonders wütend macht. Die Gouvernantehat den Entführern unwillentlich die Aufgabe erleichtert, indem sie den Jungen genau dorthin trug, wo in einem H-Hinterhalt die zweite Gruppe der Entführer wartete. Linds Plan ist nur zur Hälfte geglückt, aber das ändert wenig. Der Doktor hat Rußland an der Gurgel gepackt.«
    Bei diesen Worten sah sich Seine Majestät mit einer Miene äußerster Beunruhigung nach allen Seiten um und spähte seltsamerweise in die Ecken des Salons. Ich trat einen kleinen Schritt vor und versuchte den Wunsch des Zaren zu erraten, doch meine Phantasie reichte nicht.
    »Onkel Georgie, wo haben Sie hier eine Ikone?« fragte der Monarch.
    Großfürst Georgi blickte seinen Neffen verständnislos an und zuckte die Achseln.
    »Ach, Nicky, laß doch!« Großfürst Kirill runzelte die Stirn. »Noch bist du nicht der Gesalbte Gottes. Und wenn die Krönung platzt, wirst du es auch nicht.«
    Seine Majestät antwortete darauf mit tiefer Überzeugung: »Ich sehe nicht, was außer einem Gebet hier helfen könnte. Alles liegt in Gottes Hand. Wenn Er beschlossen hat, mir schwachem und unwürdigem Menschen eine solche Prüfung aufzuerlegen, dann liegt darin ein tiefer Sinn. Man muß sich Seinem Willen anvertrauen, Er wird die Rettung bringen.«
    Mir fiel ein, daß ich im Kabinett Seiner Hoheit eine verrußte Ikone mit altersdunkler Öllampe gesehen hatte. Lautlos auftretend, entfernte ich mich kurz und brachte dem Zaren die Ikone, nachdem ich sie vorsorglich mit einer Serviette abgewischt hatte.
    Während Seine Majestät mit aufrichtigem Gefühl und sogar mit Tränen in den Augen Worte des Gebets sprach, warteten die Großfürsten geduldig, nur Großfürst Simeonpolierte gähnend mit einem Samtläppchen seine ohnehin makellosen Fingernägel.
    »Können wir fortfahren, Nicky?« fragte Großfürst Kirill sachlich, als der Zar mir nach einem letzten Kreuzeszeichen die Ikone zurückgegeben hatte. »Also, ziehen wir die traurige Bilanz. Mika wurde von einem grausamen und gerissenen Verbrecher entführt, der nicht nur droht, den Jungen zu töten, sondern auch die Krönung zu verhindern. Was können wir tun, außer auf Gottes Hilfe zu vertrauen?«
    Karnowitsch erhob sich leicht und säuselte aus seiner Ecke: »Seine Hoheit finden und aus der Gefangenschaft befreien.«
    »Eine hervorragende Idee«, entgegnete Großfürst Kirill und nickte höhnisch. »Suchen Sie, Oberst. Herr Lind hat uns eine Frist bis Mittag gesetzt. Sie haben ganze anderthalb Stunden Zeit.«
    Der Chef der Hofpolizei nahm wieder Platz.
    Nun ergriff zum erstenmal Großfürst Pawel das Wort. Das Gesicht noch tränenfeucht, sagte er mit zitternder Stimme: »Vielleicht erfüllen wir die Forderung? Es geht um Mikas Leben, und der ›Orlow‹ ist doch nur ein Stein …«
    Die Großfürsten Kirill und Simeon, die ewigen Widersacher, riefen wie aus einem Mund:
    »Nein!«
    »Auf keinen Fall!«
    Der Zar blickte seinen Cousin mitfühlend an und sagte: »Und außerdem, Pollie, hat Herr Fandorin recht überzeugend dargelegt, daß die Übergabe des Diamanten Mika auch nicht retten würde …«
    Der junge Großfürst schluchzte auf und fuhr sich unschön mit dem Ärmel über die Wange.
    »Geh hinaus, Pollie«, befahl sein Vater streng. »Warte in deinem Zimmer. Ich schäme mich für dich.«
    Großfürst Pawel sprang abrupt auf und lief hinaus. Ich selbst hatte auch Mühe, eine unbewegte Miene zu wahren; freilich kam niemand auf die Idee, mich anzusehen.
    Armer Pawel Georgijewitsch, er trug schwer an der Last der Verantwortung, Mitglied der kaiserlichen Familie zu sein. Bei der Erziehung der Großfürsten und -fürstinnen steht an erster Stelle die Selbstkontrolle, die Fähigkeit, sich unter allen Umständen zu beherrschen. Von früher Kindheit an werden sie daran gewöhnt, an langwierigen, ermüdenden Paradeessen teilzunehmen, und sie werden absichtlich neben unbedarfte und unerträgliche Gäste gesetzt. Sie müssen den Erwachsenen aufmerksam zuhören, dürfen sich nicht anmerken lassen, daß deren Gesellschaft ihnen langweilig oder unangenehm ist, müssen über ihre Scherze lachen, und je dümmer die Witzeleien sind, desto aufrichtiger muß das Lachen sein. Was für Überwindung es sie kostet, mit den Offizieren und unteren Rängen ihrer Patenregimenter den Osterkuß zu tauschen! Mitunter mehr als tausendmal innerhalb von zwei Stunden! Und wehe, sie lassen Müdigkeit oder Abscheu erkennen. Doch Großfürst Pawel war immer so ein lebendiger

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