Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
Vom Netzwerk:
Reliquie!«
    »Unmöglich«, bekräftigte Großfürst Kirill. »In fünf Tagen ist das feierliche Hinaustragen der Reichsinsignien, zwei Tage später die Krönung. Ohne Zepter keine Zeremonie. Eine beliebige Geldsumme, bitte sehr, aber den ›Orlow‹ auf keinen Fall.«
    Alle wandten sich wie auf Verabredung dem Großfürsten Georgi zu, dessen Meinung, die Meinung des Vaters, besonderes Gewicht hatte.
    Der Großfürst bekundete die seinem Rang und seiner Stellung entsprechende Würde. In seinen Augen schimmertenTränen, die Hand lockerte unwillkürlich den engen Kragen, doch seine Stimme war fest.
    »Unmöglich. Das Leben eines Großfürsten, auch das meines Sohnes« (hier zitterte seine Stimme), »kann nicht über den Interessen der Monarchie und des Staates stehen.«
    Das nenne ich Größe und Erhabenheit, zu der nur fähig ist, wer von Gott auserwählt wurde. Die Sozialisten und Liberalen schreiben in ihren Gazetten und Blättchen, das Herrscherhaus schwelge in Luxus. Das ist kein Luxus, es ist die strahlende Aureole russischer Reichsherrlichkeit, jedes Mitglied der kaiserlichen Familie ist im Namen Rußlands bereit, das eigene Leben und das Leben seiner Lieben zu opfern.
    Das Zimmer begann vor meinen Augen zu schwanken und zu verschwimmen, und ich blinzelte gegen die Tränen an.
    »Und wenn man den Diamanten durch Straß ersetzt?« äußerte sich Oberst Karnowitsch in seiner Ecke. »Man kann eine Kopie anfertigen lassen, die vom Original nicht zu unterscheiden ist.«
    »In so kurzer Zeit ist eine I-Imitation in der Qualität nicht herzustellen«, antwortete Fandorin. »Außerdem schreibt Lind, daß er einen eigenen Juwelier hat.«
    Großfürst Kirill sagte: »Ich verstehe bloß nicht, warum er unbedingt den ›Orlow‹ haben will. Der Stein ist unermeßlich kostbar, hat also keinen Marktwert. Er ist in der ganzen Welt bekannt und läßt sich nicht verkaufen.«
    »Doch, Eure Hoheit«, widersprach der Oberst. »Man kann ihn in drei, vier große und einige Dutzend mittlere und kleine Steine spalten.«
    »Und für welchen Preis läßt sich das alles verkaufen?«
    Karnowitsch wiegte den Kopf, er wußte darauf keine Antwort.
    »Ich kenne mich ein bißchen aus«, sagte Fandorin. »Drei große Diamanten, so um fünfzig Karat, können pro Stein etwa eine halbe Million Goldrubel erzielen. Die kleinen, sch-schätze ich, noch mal eine halbe Million.«
    »Zwei Millionen?« Der Zar atmete auf. »Für unsern lieben Mika tut uns das Geld nicht leid!«
    Fandorin stieß einen Seufzer aus.
    »Eure Majestät, es geht Lind überhaupt nicht um zwei Millionen. Wie ich ihn kenne, ist das eine Erpressung, und zwar in größerem M-Maßstab, als es auf den ersten Blick scheint. Lind hat es auf die Krönung abgesehen, denn er weiß sehr genau, daß die Zeremonie ohne den ›Orlow‹ unmöglich ist. Und das Leben des Knaben ist nur ein D-Druckmittel. Lind will die Krönung vereiteln und Rußland und die Romanow-Dynastie vor aller Welt bloßstellen, indem er Körperteile des Jungen an den belebtesten Plätzen ablegt.«
    Allen Anwesenden, auch mir, entrang sich ein Stöhnen des Entsetzens, doch Fandorin fuhr unerbittlich fort: »Sie sagten, Eure Hoheit, daß es auf der ganzen Welt keinen Käufer für den ›Orlow‹ geben wird. Aber es gibt schon einen Käufer – das Haus Romanow. Im Grunde müssen Sie nicht den Großfürsten freikaufen, sondern den ›Orlow‹, und zwar zu dem Preis, den Lind bestimmt, denn mit dem Stein stehen die K-Krönung und das Prestige der Monarchie auf dem Spiel. Ich fürchte, das kostet nicht nur zwei Millionen, sondern viel, viel mehr. Und das ist noch nicht das Schlimmste.« Fandorin senkte den Kopf, und ich sah, daß sich seine Hände zu Fäusten ballten. »Sie werden für den Stein und die Rückkehr des Großfürsten bezahlen, aber Lind wird das Kind nicht lebendig zurückgeben. Das ist bei ihm nicht üblich …«
    Unheilvolle Stille trat ein, aber nur für einen Moment,denn Großfürst Pawel, der bislang still am Ende des Tisches gesessen hatte, schlug plötzlich die Hände vors Gesicht und schluchzte.
    »Pollie, nimm dich zusammen«, sagte Großfürst Kirill streng. »Und Sie, Fandorin, hören auf, uns Angst einzujagen. Erzählen Sie uns lieber von Lind.«
    »Er ist der gefährlichste Verbrecher auf der Welt«, begann Fandorin. »Ich weiß nicht, w-warum er ›Doktor‹ genannt wird. Vielleicht, weil er auf allen möglichen Gebieten beschlagen ist. So beherrscht er zum Beispiel zahlreiche Sprachen. Vielleicht

Weitere Kostenlose Bücher