Entführung des Großfürsten
auch Russisch, das würde mich nicht wundern. Über Lind gibt es sehr wenig gesicherte K-Kenntnisse. Offensichtlich ist er verhältnismäßig jung, denn vor zehn Jahren wußte noch niemand von ihm. Wo er geboren wurde, ist unbekannt. Wahrscheinlich ist er Amerikaner, denn die ersten Taten, die ihm den Ruf eines dreisten und g-gnadenlosen Verbrechers einbrachten, beging er in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Er begann mit Überfällen auf Banken und Postwagen, später spezialisierte er sich auf E-Erpressung und Menschenraub.«
Während Fandorin sprach, blickte er auf den Tisch, als sähe er in der polierten Oberfläche Bilder der Vergangenheit aufschimmern, die nur seinem Blick zugänglich waren.
»Also, was weiß ich dennoch über diesen Mann? Er ist ein eingefleischter Frauenhasser. In seiner Nähe gibt es keine F-Frauen, weder Geliebte noch Freundinnen. Seine Bande besteht ausschließlich aus Männern. Sie ist, wenn Sie so wollen, eine Bruderschaft. Der Doktor scheint frei von gewöhnlichen menschlichen Schwächen zu sein, weshalb es noch niemandem gelungen ist, seine Spur aufzunehmen. Seine Gefolgsleute sind ihm hündisch ergeben, und das kommt in Verbrecherkreisenäußerst selten vor. Ich habe zweimal Männer aus seiner Bande lebendig gefaßt und beide Male nichts herausbekommen. Der eine erhielt lebenslängliche Zwangsarbeit, der andere legte Hand an sich, doch ihren Anführer haben beide nicht verraten … Linds Verbindungen zu internationalen kriminellen Kreisen sind wahrlich grenzenlos, seine Autorität ist enorm. Wenn er S-Spezialisten auf einem Gebiet braucht – Schränker, Auftragsmörder, Falschmünzer, Hypnotiseure, Einbrecher –, rechnen es sich die größten ›Meister‹ der Verbrecherzunft als Ehre an, ihm gefällig zu sein. Ich vermute, der Doktor ist m-märchenhaft reich. Allein in der Zeit, in der ich mich mit ihm beschäftige, und das sind gut anderthalb Jahre, und nur in den Fällen, die mir bekannt sind, hat er nicht weniger als zehn Millionen an sich gebracht.«
»Franken?« fragte Großfürst Georgi.
»Nein, D-Dollar. Das sind etwa zwanzig Millionen Rubel.«
»Zwanzig Millionen!« Seine Hoheit seufzte. »Und mir bewilligt die Reichskasse lächerliche zweihunderttausend im Jahr! Hundertmal weniger! Und dann verlangt dieser Lump auch noch Geld von mir!«
»Nicht von Ihnen, Onkel Georgie«, bemerkte der Zar trocken. »Von mir. Der ›Orlow‹ ist Eigentum der Krone.«
»Nicky, Georgie!« rief Großfürst Kirill beide zur Ordnung. »Fahren Sie fort, Fandorin.«
»Ich hatte zwei Begegnungen mit Doktor Lind«, sagte Fandorin und stockte.
Im Zimmer wurde es sehr still, nur ein kurzes Knarren war zu hören, als Oberst Karnowitsch sich auf seinem Stuhl mit dem ganzen Körper vorbeugte.
»Ich weiß nicht einmal, ob man es als ›Begegnung‹ bezeichnen kann, denn von Angesicht sahen wir einander nicht.Ich hatte mein Äußeres verändert, Lind trug eine Maske. Das war vor anderthalb Jahren in New York. Vielleicht haben die russischen Zeitungen über die Entführung des zwölfjährigen Millionärssohnes Barewood berichtet? In Amerika war die Geschichte einen ganzen Monat in den Schlagzeilen … Mr. Barewood bat mich, bei der Übergabe des Lösegelds als Mittelsmann zu fungieren. Ich verlangte von den Entführern, mir zuerst den Gefangenen zu zeigen. Lind persönlich führte mich in ein G-Geheimzimmer. Er trug eine schwarze Maske, die fast das ganze Gesicht bedeckte, einen langen Mantel und einen Hut. Darum konnte ich nur feststellen, daß er von mittlerem Wuchs war und einen Schnurrbart hatte, der möglicherweise angeklebt war. Er sprach in meiner Gegenwart kein einziges Wort, so daß ich auch über seine S-Stimme nichts sagen kann.« Fandorin preßte die Lippen zusammen, als müsse er seine Erregung niederkämpfen. »Der Junge lebte, er saß mit zugeklebtem Mund auf einem Stuhl. Lind erlaubte mir, ihn von nahem zu betrachten, dann führte er mich in den Korridor, schloß die Tür mit drei Schlössern ab und gab mir die Schlüssel. Entsprechend der Abmachung händigte ich ihm das Lösegeld aus – den Ring der Kleopatra im Wert von anderthalb Millionen Dollar – und machte mich auf ein Handgemenge gefaßt, denn sie waren zu siebt, ich war allein. Aber Lind betrachtete den Ring aufmerksam durch die Lupe, nickte und entfernte sich mit seinem Gefolge. Ich mühte mich lange mit den Schlössern ab, die sich schwerer auf- als zuschließen ließen, und als ich endlich in das Zimmer kam, war
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