Entführung des Großfürsten
ich mühelos – wer sonst würde mit gelangweilter Miene bei strömendem Regen spazierengehen? Außer diesen Herren mit den schwarzen Schirmen war kaum jemand auf den Bürgersteigen. Doch auf der Straße rollten in dichter Folge die Equipagen in beide Richtungen, fast Rad an Rad. Auf dem Sazepski-Wall (den Namen las ich auf einem Schild) fuhr neben mir ein Pope in einer alten Kalesche mit kariertem Verdeck. Er hatte es eilig und schrie wütend auf den Kutscher ein: »Schneller, schneller, Knecht Gottes!« Aber wie denn, wenn an Droschken, Kremsern und Omnibussen nicht vorbeizukommen war?
Ich überquerte ein Flüßchen oder einen Kanal, dann einen breiteren Fluß, die Kette der Geheimen hatte längst aufgehört, und niemand nahm Verbindung mit mir auf. Ich war schon fast überzeugt, daß Lind die Agenten bemerkt hatte und das Treffen platzen ließ. An einer breiten Kreuzung stockte der Verkehrsstrom – ein Schutzmann in langem Regenmantel stieß in eine Trillerpfeife und gab den Weg frei für die Fahrzeuge aus der Querstraße. Die Stockung nutzend, wuselten Zeitungsjungen zwischen den Fahrzeugen herum und schrien: »Die Zeitung eine Kopeke!« – »Die Moskauer Nachrichten!« – »Das Russische Wort!«
Einer von ihnen, mit angeklatschten flachsblonden Haarenund einem nässedunklen Hemd über der Hose, griff plötzlich mit einer Hand nach der Deichsel und ließ sich flink neben mir auf den Bock plumpsen. Es war ein behender kleiner Bursche, der dank der Regenwand aus den hinteren Wagen bestimmt nicht zu sehen war.
»Lenk nach rechts, Onkel«, sagte er und stieß mir den Ellbogen in die Seite. »Und guck nach vorn.«
Ich hätte mich gar zu gern umgedreht, um zu sehen, ob den Agenten der unverhoffte Gesandte auch nicht entgangen war, aber das wagte ich nicht. Sie würden ja sehen, daß ich abbog.
Ich zog die Zügel nach rechts, knallte mit der Peitsche, und das Pferd schwenkte in eine krumme, aber solide Straße mit Steinhäusern ein.
»Schneller, Onkel, schneller!« schrie der Junge und blickte sich um. »Tempo!«
Er riß mir die Peitsche aus der Hand und ließ sie mit einem Räuberpfiff auf die Braune niedersausen, und die donnerte mit den Hufen über die Pflastersteine.
»Jetzt hier lang!« Mein Begleiter wies mit dem Finger nach links.
Wir flogen in eine kleinere und einfachere Straße, jagten durch das ganze Viertel und bogen wieder ab. Dann noch einmal und noch einmal.
»Dort, in den Torweg!« rief der Bengel.
Ich hielt die Zügel kurz, und wir fuhren in einen dunklen, engen Torbogen.
Es verging keine halbe Minute, als zwei Droschken mit Agenten unter Getöse vorbeipreschten, dann wurde es still, nur der Regen prasselte, Spritzer aufwerfend, immer dichter aufs Pflaster.
»Und wie weiter?« fragte ich und blickte scheu den Gesandten an.
»Warten«, ließ er gewichtig fallen und pustete in die klammen Hände.
Auf die Hofpolizei brauchte ich nicht mehr zu hoffen, ich war auf mich allein gestellt. Aber Angst hatte ich nicht, denn mit dem Jungchen würde ich auch allein fertig werden. Wenn ich ihn an den mageren Schultern packe und ordentlich schüttle, wird er bestimmt erzählen, wer ihn geschickt hat. Und schon kann man den Faden zurückverfolgen.
Ich betrachtete den Kleinen genauer: aufgeworfener, keineswegs kindlicher Mund, verkniffene Augen. Ein Wolfsjunges, ein kleiner Wolf. Aus so einem schüttelt man die Wahrheit nicht heraus.
Plötzlich erklang wieder das Geräusch einer sich nähernden Equipage. Ich reckte den Hals, und das machte sich das Bürschchen sofort zunutze. Ich hörte ein Rascheln und drehte mich um, der Platz neben mir war leer, auf dem Sitz ein nasser Fleck.
Als das Getrappel schon ganz nahe war, sprang ich vom Bock, lief aus dem Torbogen auf den Gehsteig und sah vier kräftige Rappen, die eine dicht verhängte Kutsche zogen. Der Kutscher, mit tief herabgezogener Kapuze, ließ eine lange Peitsche über die Pferderücken hinwegknallen. Dicht bei dem Torbogen wurden die Vorhänge des Wagens plötzlich aufgezogen, und ich sah direkt vor mir das blasse Gesichtchen Seiner Hoheit, die goldschimmernden Locken und die Matrosenmütze mit der roten Bommel.
Er sah mich ebenfalls und rief: »Afanassi! Afanassi!«
Ich wollte auch etwas rufen und riß den Mund auf, brachte aber nur einen Schluchzer hervor.
Mein Gott, was nun?
Ohne zu wissen, was ich tat, stürzte ich der Equipage hinterher. Ich merkte nicht einmal, wie mir der nasse Hut vom Kopf flog.
»Halt!« schrie ich.
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