Entführung des Großfürsten
mir auf der Brust.
Flüchtig sah ich wieder die Kutsche der Zarin-Mutter und auf dem hinteren Wagentritt Oberst Karnowitsch, verkleidet als Kammerlakai – Leibrock, gepuderte Perücke, dennoch mit dunkelblauer Brille. Doch der Oberst konnte mir jetzt auch nicht helfen.
Ich mußte dringend mit dem Großfürsten Georgi sprechen, obwohl auch er das entstandene Problem nicht lösen würde. Das konnte nur der Zar. Schlimmer noch – nur die Zarin.
Nach dem gestrigen Durcheinander hatte Karnowitsch für die schlechte Vorbereitung der Agenten einen mächtigen Rüffel vom Großfürsten Georgi einstecken müssen. Ich hatte auch etwas abbekommen, gleich von beiden, weil ich nichts erspäht und nicht einmal den Zeitungsjungen festgehalten hatte.
Fandorin hatte dieser für mich qualvollen Szene nicht beigewohnt. Er war, wie mir Somow etwas später berichtete, mit seinem Japaner weggegangen, noch bevor ich zu dem Treffen mit Linds Leuten aufgebrochen war, und seitdem nicht zurückgekehrt.
Die Abwesenheit der beiden ließ mir keine Ruhe. EinigeMale im Laufe des Abends und noch einmal lange nach Mitternacht ging ich nach draußen und blickte zu Fandorins Fenstern. Es brannte kein Licht.
Am Morgen erwachte ich von einem heftigen, nervösen Klopfen an meine Tür. Ich dachte, es wäre Somow, und öffnete in Schlafrock und Nachtmütze die Tür. Wie groß war meine Verwirrung, als ich Ihre Hoheit vor mir sah!
Großfürstin Xenia war bleich, und die Schatten unter ihren Augen verrieten, daß sie kein Auge zugetan hatte.
»Er ist nicht da«, sprudelte sie hervor. »Afanassi, er war die ganze Nacht weg!«
»Wer, Eure Hoheit?« fragte ich erschrocken, wobei ich meine Mütze zurechtzupfte und die Knie etwas beugte, damit der Morgenmantel bis zum Boden reichte und meine nackten Fußknöchel bedeckte.
»Na, wer wohl! Erast Petrowitsch! Weißt du vielleicht, wo er ist?«
»Nein«, antwortete ich und fühlte ein Ziehen im Herzen, denn der Gesichtausdruck Ihrer Hoheit gefiel mir ganz und gar nicht.
Fandorin und sein Diener kamen nach dem Frühstück, als die Großfürsten zur Vorbereitung des feierlichen Einzugs schon zum Petrowski-Schloß gefahren waren. Das Haus war voller Polizeiagenten, weil das nächste Schreiben der Entführer erwartet wurde. Ich hielt mich in der Nähe des Telephons auf und schickte Somow immer wieder vor die Tür nachsehen, ob vielleicht ein Brief dalag. Aber das war überflüssig, denn in den Büschen längs der Zufahrtsallee wachten Agenten von Oberst Lassowski. Diesmal würde es niemandem gelingen, unbemerkt über die Umzäunung zu klettern und sich der Eremitage zu nähern.
»Haben Sie den Knaben gesehen?« fragte mich Fandorin statt einer Begrüßung. »Lebt er?«
Ich erzählte von meinen Erlebnissen und war auf die nächste Portion Vorwürfe gefaßt, weil ich den Zeitungsjungen hatte entwischen lassen.
Um dem zuvorzukommen, sagte ich: »Ich weiß, ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte nicht hinter der Kutsche herlaufen, sondern diesen kleinen Strolch am Schlafittchen packen sollen.«
»H-Hauptsache, Sie haben den Kleinen gesehen, und er ist unversehrt.«
Vorwürfe hätte ich ertragen, denn die waren verdient, doch diese Herablassung fand ich empörend.
»Trotzdem, es war der einzige Anhaltspunkt!« sagte ich wütend und gab ihm damit zu verstehen, daß ich seine falsche Großmut nicht brauchte.
»Ach was«, sagte er und winkte ab. »Ein gewöhnlicher strubbeliger G-Gassenjunge, elfeinhalb Jahre alt. Ihr Senka Kowaltschuk weiß nichts, kann gar nichts wissen. Was denken Sie denn von Doktor L-Lind?«
Mir muß wohl der Unterkiefer heruntergeklappt sein, denn bevor ich antwortete, mümmelte ich dümmlich mit den Lippen.
»Se… Senka?« wiederholte ich, plötzlich auch stotternd. »Haben Sie ihn etwa gefunden? Aber wie?«
»Ganz einfach. Ich habe ihn mir genau angeguckt, als er zu Ihnen in den W-Wagen sprang.«
»Angeguckt?« fragte ich und ärgerte mich über mein Nachplappern. »Wie denn, wenn Sie gar nicht dort waren?«
»Wieso war ich nicht dort?« entgegnete Fandorin würdevoll, zog die Brauen zusammen und röhrte plötzlich im Baß,der mir bekannt vorkam: »›Schneller, schneller, Knecht Gottes!‹ Sjukin, ich war die ganze Zeit in Ihrer Nähe.«
Der Pope, ja, der Pope aus dem Vehikel mit dem karierten Verdeck!
Ich riß mich zusammen und setzte eine würdevolle Miene auf.
»Und was ist dabei herausgekommen? Sie sind uns ja nicht gefolgt.«
»Wozu?« Der Blick seiner Augen war
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