Entführung des Großfürsten
so gelassen, daß ich mich verhöhnt fühlte. »Ich hatte g-genug gesehen. Der Bengel trug eine Tasche mit dem ›Moskauer Pilger‹. Erstens. In seine Finger hat sich Druckerfarbe eingefressen, also ist er wirklich ein Zeitungsjunge, durch dessen Hände täglich Hunderte von Zeitungen gehen. Zweitens …«
»Viele Jungs verkaufen den ›Pilger‹!« warf ich ungehalten ein. »Ich habe gehört, daß dieses Boulevardblättchen in Moskau täglich fast hunderttausend Abnehmer hat!«
»Außerdem hatte der Junge an der linken Hand sechs Finger – haben Sie das nicht bemerkt? Das war drittens«, schloß Fandorin ungerührt. »Gestern abend bin ich mit Masa alle zehn Stellen abgegangen, wo die Z-Zeitungsjungen des ›Moskauer Pilgers‹ ihre Ware in Empfang nehmen, und wir erhielten mühelos Auskunft über das uns interessierende Subjekt. Freilich mußten wir ihn ein bißchen suchen, und als wir ihn gefunden hatten, mußten wir ein bißchen rennen, aber uns kann keiner so leicht davonlaufen, und schon gar nicht so ein junges Geschöpf.«
Einfach, mein Gott, wie einfach – das war das erste, was mir durch den Kopf ging. Wirklich, man mußte sich den Mittelsmann der Entführer nur genauer ansehen.
»Was hat er Ihnen erzählt?« fragte ich ungeduldig.
»Nichts Interessantes«, antwortete Fandorin und unterdrückte ein Gähnen. »Ein ganz gewöhnlicher Junge. Er verkauft Zeitungen, damit er sich ein Stück Brot und für seine trinkende Mama Wodka kaufen kann. Mit der Verbrecherwelt hat er nichts zu tun. Gestern hat ihn ein ›Onkel‹ angeheuert, hat ihm d-drei Rubel in die Hand gedrückt und ihm erklärt, was er tun muß. Außerdem hat er g-gedroht, ihm den Bauch aufzuschlitzen, wenn er was verpatzt. Senka sagt, es war ein ›suriöser‹ Onkel, einer, der Ernst macht mit dem Aufschlitzen.«
»Und was hat er noch über den ›Onkel‹ gesagt?« fragte ich mit stockendem Herzen. »Wie hat er ausgesehen? Wie war er gekleidet?«
»Ganz normal.« Fandorin seufzte mißmutig. »Wissen Sie, Sjukin, unser junger Bekannter hat einen sehr geringen Wortschatz. Auf alle Fragen antwortet er ›ganz normal‹ und ›wer weiß‹. Das einzige Merkmal des O-Onkels – ›breites Maul‹. Ich fürchte, das wird uns nicht viel helfen … Na schön, ich leg mich ein bißchen aufs Ohr. Wenn eine Nachricht von Lind kommt, wecken Sie mich.«
Und er ging in sein Zimmer, der unangenehme Mensch.
Ich hielt mich nach wie vor in der Diele auf, in der Nähe des Telephonapparats. Auf und ab gehend, bemühte ich mich um eine Miene tiefer Nachdenklichkeit, doch die Diener blickten schon sichtlich befremdet in meine Richtung. Da stellte ich mich ans Fenster und tat, als beobachtete ich Lord Banville und Mr. Carr, die, beide in weißen Hosen und mit kariertem Käppi, Kricket spielten.
Eigentlich spielten sie nicht, sondern schlenderten mit überaus verdrossener Miene über den Kricketplatz, wobei Mylord unentwegt redete und, wie es schien, immer mehr inRage kam. Schließlich blieb er stehen, wandte sich seinem Begleiter zu und geriet nun vollends außer sich – er fuchtelte mit den Händen und brüllte derart, daß ich es sogar durchs Fenster hören konnte. Nie zuvor hatte ich bei einem englischen Lord ein derartiges Benehmen gesehen. Mr. Carr hörte mit gelangweiltem Gesicht zu und schnupperte an seiner gefärbten Nelke. Freyby stand etwas abseits und rauchte, ohne von den Herren Notiz zu nehmen, seine Pfeife. Unter den Arm hatte er zwei Holzhämmerchen mit langem Griff geklemmt.
Plötzlich schrie Lord Banville besonders gellend und versetzte Mr. Carr eine schallende Ohrfeige, so daß letzterem das Käppi vom Kopfe flog. Ich erstarrte und dachte erschrocken, daß die Briten jetzt gleich hier auf der Wiese einen ihrer barbarischen Boxkämpfe austragen würden, aber Mr. Carr warf lediglich dem Lord die Blume vor die Füße und ging davon.
Mylord blieb einige Augenblicke unbeweglich stehen, dann stürzte er seinem Herzensfreund hinterher. Als er ihn eingeholt hatte, ergriff er seine Hand, doch Mr. Carr entzog sie ihm mit einem Ruck. Da plumpste Mylord auf die Knie und folgte in dieser unbequemen Haltung dem Geohrfeigten. Freyby ging mit seinen Holzhämmerchen gähnend hinterdrein.
Ich wußte nicht, was zwischen ihnen vorging, und ehrlich gesagt, ich hatte auch wenig Sinn für ihre englischen Leidenschaften. Überdies war mir eine hervorragende Idee gekommen, wie ich mich vom Telephon entfernen könnte. Ich rief einen der Agenten und bat ihn,
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