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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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»Halt!«
    Über dem Wagendach sah ich die Kapuze des Kutschers und die schwingende Peitsche.
    Nie in meinem Leben war ich so gerannt, nicht einmal als Eilbote des Hofes.
    Natürlich hätte ich die vier Rappen nie einholen können, wenn die Straße nicht plötzlich eine jähe Kurve gemacht hätte. Die Kutsche verlangsamte die Fahrt und neigte sich ein wenig zur Seite. Mit ein paar gewaltigen Sätzen holte ich den Wagen ein und klammerte mich mit beiden Händen an die Gepäckhalterung. Schon wollte ich auf den Bediententritt steigen, aber da schwang der Kutscher, ohne sich umzudrehen, die Peitsche übers Wagendach und verpaßte mir einen sengenden Schlag auf den Kopf, so daß ich losließ. Ich krachte mit dem Gesicht in eine Pfütze, aus der eine Wasserfontäne hochstieg. Schließlich richtete ich mich auf, doch die Kutsche war um die Ecke gebogen.
    Als ich, hinkend und mir das verschmierte Gesicht abwischend, zu meinem zweirädrigen Wagen kam, war der Koffer mit dem Geld verschwunden.

 
    9. Mai
    Der feierliche Zug hatte das Triumph-Tor passiert, als ich, keuchend und schweißüberströmt, aus der Mietdroschke sprang und mich, ungeniert die Ellbogen einsetzend, durch die dichte Menge schob, welche die Große Twerskaja-Jamskaja-Straße zu beiden Seiten säumte.
    Entlang der Fahrbahn standen Soldaten Spalier, und ich drängte mich zu einem Offizier durch, wobei ich versuchte, die gemusterte Teilnehmerkarte aus der Hosentasche zu ziehen, was sich als kompliziert erwies, denn in der Beengtheit konnte ich den Ellbogen nicht strecken. Ich begriff, daß ich warten mußte, bis der Zar vorüber war, um mich dann dem Ende der Kolonne anzuschließen.
    Am Himmel stand eine festliche strahlende Sonne – zum erstenmal nach so vielen trüben Tagen; die Luft war erfüllt von Glockengeläut und Hurra-Rufen.
    Der Zar vollzog den zeremoniellen Einzug in die alte Hauptstadt – vom außerhalb gelegenen Petrowski-Schloß in den Kreml.
    Vorweg ritten auf mächtigen Hengsten zwölf Gendarmen, und eine spöttische Stimme hinter mir sagte ziemlich laut: »C’est symbolique, n’est-ce pas? Man sieht gleich, wer bei uns in Rußland die Hauptrolle spielt.«
    Ich blickte mich um und sah zwei bebrillte Studentengesichter, die mit verächtlicher Miene dem Umzug zusahen.
    Hinter den Gendarmen ritten, auf ihren Sätteln wippend, die Kosaken der kaiserlichen Eskorte, und ihre silberbestickten scharlachroten Tscherkessenröcke gleißten in der Sonne.
    »Ihre Peitschen haben sie auch dabei«, bemerkte dieselbe Stimme.
    Dann folgte ein lockeres Karree von Donkosaken, hierauf eine Abordnung der asiatischen Untertanen des Reichs – in bunten Gewändern, auf schlankbeinigen Rennern, die mit Teppichen geschmückt waren. Ich erkannte den Emir von Buchara und den Chan von Chiwa, beide trugen Sterne und goldene Generalsepauletten, die sich auf den orientalischen Seidenmänteln sonderbar ausnahmen.
    Ich mußte noch geraume Zeit warten. Ein langer Zug von Adelsvertretern in Paradeuniform schritt vorüber, dann sah ich den Kammerfourier Bulkin, der die Hofdiener anführte: Botenläufer, Mohren mit Turban, Kammerkosaken.
    Plötzlich wurden auf den mit Fahnen und Girlanden geschmückten Balkonen Rufe laut, Hände und Tücher wurden geschwenkt, die Zuschauer drängten gegen die Seile, und ich erriet, daß das Herzstück der Kolonne sich näherte.
    Seine Majestät ritt einzeln, und er sah in der Uniform des Semjonower-Regiments sehr imposant aus. Die graziöse schneeweiße Stute Norma ließ sensibel die schmalen Ohren spielen und schielte mit einem feuchten schwarzen Auge zur Seite, ohne aus dem zeremoniellen Schritt zu kommen. Auf dem unbeweglichen Gesicht des Zaren war ein Lächeln gefroren. Die Rechte im weißen Handschuh war im militärischen Gruß an der Schläfe erstarrt, die Linke bewegte sacht den vergoldeten Zügel.
    Ich wartete, bis die Großfürsten und die offenen Landauermit der Zarinmutter und der herrschenden Zarin vorüber waren, zeigte dann dem Absperrposten meinen Passierschein und lief rasch in eine Lücke.
    Ich geriet in die Kolonne der zu Fuß gehenden Senatoren, drängte mich zur Mitte durch, weg von den Blicken des Publikums, und schlängelte mich, Entschuldigungen murmelnd, im Zickzack nach vorn. Die hochwichtigen Herren, von denen ich viele von Angesicht kannte, warfen dem Flegel in der grünen Livrée aus dem Hause des Großfürsten Georgi befremdete Blicke zu, aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. Doktor Linds Brief brannte

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