Entführung des Großfürsten
fragte: »Koda, bist du da?«
Die Antwort war nicht zu verstehen.
»Ich bin Oheim, einer von den Warschauer Draufgängern«, sagte Fandorin fröhlich und näherte sich dem Posten, den ich von meinem Platz nicht sehen konnte. »Koda und ich, wir sind Gevattern und halten zusammen wie Pech und Schwefel. Sind eure Männer alle da? Ist Stumpf auch eingetrudelt? Ja doch, ich weiß die Parole. Gleich …«
Ein knackender Laut war zu hören, als hätte jemand mitSchwung ein Holzscheit gespalten. Masa stieß mich an: Es ist soweit.
Wir sprangen über den offenen Platz und liefen hinunter. Fandorin untersuchte in gebückter Haltung die ins Tor eingelassene Tür. Neben ihm saß, an die Wand gelehnt, ein zerzauster Bursche mit verdrehten Augen und schnappte krampfhaft nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.
»Eine raffinierte T-Tür«, sagte Fandorin besorgt. »Sehen Sie den Draht? Wie in einem guten Kaufhaus – wenn man hineingeht, klingelt ein Glöckchen. Aber wir sind bescheidene Leute, nicht wahr? Wir kappen den Draht mit dem Messerchen, so. Wozu die Männer beim Reden stören? Zumal Herr Stumpf schon eingetroffen, oder wie man hier sagt, ›eingetrudelt‹ ist.«
Ich begriff nicht, weshalb Fandorin so fröhlich war. Mir schlugen vor Aufregung (ich hoffe, nicht vor Angst) die Zähne aufeinander, aber er rieb sich beinahe die Hände und benahm sich überhaupt so, als hätten wir eine unterhaltsame, wenn auch nicht ganz schickliche Vergnügung vor uns. So ähnlich verhielt sich Endlung, wenn er den Großfürsten Pawel an einen verrufenen Ort führte. Ich habe gehört, daß es eine Sorte Menschen gibt, für die Gefahr wie Schnaps für einen Trinker ist oder Opium für einen Süchtigen. Zu dieser Spezies gehörte offenbar auch der ehemalige Staatsrat Fandorin. Jedenfalls hätte das vieles in seinem Verhalten und Auftreten erklärt.
Er stieß sacht gegen die Tür, und sie öffnete sich ohne Quietschen – die Angeln waren gut geölt.
Ich sah einen abschüssigen Gang, der vom roten Widerschein einer Flamme beleuchtet war. Weiter unten brannte wohl ein Feuer, oder es waren Fackeln.
Wir stiegen den engen Gang zwanzig Schritte hinab, dann hob Fandorin, der voranging, die Hand. Dumpfe, von den Steingewölben widerhallende Stimmen waren zu hören. Meine Augen hatten sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt, und ich sah links und rechts des Ganges Stapel alter morscher Eichenfässer.
Plötzlich duckte sich Fandorin und schlüpfte in eine Lücke zwischen zwei Fässern. Wir taten es ihm nach.
Wie sich zeigte, gab es zwischen den riesigen Fässern Zwischenräume, die eine Art Labyrinth bildeten. Wir schlichen lautlos auf diesem verschlungenen Weg, bestimmten die Richtung nach den Lichtflecken an der Decke und dem Stimmengewirr, das immer deutlicher wurde. Bald verstand ich einzelne Wörter, wenn ich auch nicht immer deren Sinn begriff.
»… morgen geht’s los … Wenn ich pfeife, dann krähst du …«
Fandorin bog in einen schmalen Durchgang ein und blieb stocksteif stehen. Ich reckte mich über seine Schulter und sah ein irres, grusliges Bild.
Mitten auf einer recht geräumigen freien Fläche, die auf allen Seiten von Reihen dunkler Fässer umschlossen war, stand ein Brettertisch, beleuchtet von ein paar Fackeln, die in Dreifüßen steckten. Das Feuer flackerte und knisterte, und schwarze Rauchfäden stiegen zur Gewölbedecke.
Am Tisch saßen sechs Männer: einer an der Stirnseite, fünf an den übrigen drei Seiten. Den Anführer konnte ich besser sehen als die übrigen, denn er saß uns zugewandt. Er hatte ein grobes und kräftiges Gesicht mit vorspringender Stirn, tiefen Furchen um den Mund und mächtiger Kinnlade, doch am meisten fesselte mich nicht das Gesicht, sondern die rechteHand des Bandenchefs, die auf dem Tisch lag. Sein Arm mündete nicht in Finger, sondern in eine dreizinkige Gabel!
Stumpf – er war es ohne Zweifel – stieß seine gespenstische Hand in die vor ihm stehende Schüssel, spießte ein Stück Fleisch auf und beförderte es in den Mund.
»Keiner wird krähn«, sagte einer von denen, die mit dem Rücken zu uns saßen. »Ist ja alles tote Hose hier. Wir wissen von nichts. Laß was gucken. Was solln das fürn großes Ding sein? Wieso verkriechen wir uns hier? Drehen Däumchen? Liegen auf der faulen Haut? Das hält ja keiner aus. Saufen ist auch nich drin, nich mal n scharfes Spielchen. Da fault man doch ab.«
Da muckten auch die anderen auf und pflichteten dem Redner lautstark bei.
Stumpf
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