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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Vernunft so weit eingebüßt hatte, daß sie auch am hellichten Tage hierherkam? Mir fiel ein, daß ich sie den ganzen Tag nicht gesehen hatte – sie war weder zum Frühstück noch zum Mittagessen in den Salon gekommen. Wo sollte das noch hinführen?
    Ich sah mich nach allen Seiten um und legte das Ohr an das mir schon vertraute Schlüsselloch.
    »Genug, g-genug«, hörte ich Fandorins Stimme. »Sie werden später bereuen, daß Sie sich mir anvertraut haben.«
    Eine zarte, überkippende Stimme antwortete: »Nein, ich sehe an Ihrem Gesicht, daß Sie ein nobler Mensch sind. Warum quält er mich so? Ich werde diesen gräßlichen britischen Leichtfuß erschießen und dann mich selbst! Vor seinen Augen!«
    Nein, das war nicht die Großfürstin.
    Beruhigt klopfte ich.
    Fandorin öffnete mir. Am Fenster stand, mit dem Rücken zur Tür, der Adjutant des Großfürsten Simeon.
    »Sie werden in den Salon gebeten«, sagte ich ruhig und blickte in die verhaßten blauen Augen. »Mademoiselle Déclic ist zurück.«
     
    »Ich habe mindestens vierzig Minuten in dieser großen halbleeren Kirche gewartet, aber niemand ist an mich herangetreten. Dann näherte sich ein Kirchendiener und gab mir einen Zettel mit den Worten
›Isch abe den Auftrag, das zu übergeben‹
.« Den letzten Satz sagte Mademoiselle auf russisch.
    »Haben Sie gefragt, wer ihm den Auftrag erteilt hat?« warf Karnowitsch ein.
    »Wo ist der Zettel?« Großfürst Simeon streckte gebieterisch die Hand aus.
    Die Gouvernante blickte verwirrt vom Oberst zum Generalgouverneur. Sie wußte wohl nicht, wem sie zuerst antworten sollte.
    »Nicht unterbrechen!« befahl Großfürst Georgi drohend.
    Im Salon waren noch Großfürst Pawel und Fandorin, aber sie sagten kein Wort.
    »Ja, ich habe gefragt, von wem der Zettel ist. Er hat gesagt: ›
Von einem Mann‹
und ist gegangen.
    Ich sah, wie sich Karnowitsch etwas in ein kleines Heft notierte, und erriet: Er läßt den Kirchendiener ermitteln und verhören.
    »Den Zettel hat man mir wieder weggenommen, aber ich habe mir Wort für Wort gemerkt, was darauf stand: ›Gehen Sie hinaus auf den Platz, dann bis zum Boulevard und umrunden Sie die kleine Kirche.‹ Der Text war französisch abgefaßt, keine Druckbuchstaben. Eine kleine schiefe Schrift, nach links geneigt.«
    Mademoiselle blickte zu Fandorin, und er nickte ihr aufmunternd zu. Mir krampfte sich das Herz zusammen.
    »Ich habe alles befolgt. Etwa zehn Minuten stand ich noch vor der Kirche. Dann kam ein großer, breitschultriger Mann mit schwarzem Bart, den Hut bis in die Augen gezogen, er ging an mir vorüber, wobei er mich mit der Schulter streifte, und als ich ihm nachblickte, machte er mir unauffällig ein Zeichen, ihm zu folgen. Wir gingen eine Gasse bergauf. Dort stand eine Kutsche, eine andere als gestern, aber auch schwarz und mit zugezogenen Vorhängen. Der Mann öffnete denSchlag und hieß mich einsteigen, dabei tastete er mit den Händen mein Kleid ab – wahrscheinlich nach Waffen.« Sie machte ein angeekeltes Gesicht. »Ich sagte zu ihm: ›Wo ist der Junge? Ich fahre nirgendwohin, bevor ich ihn gesehen habe.‹ Aber er tat, als hätte er nichts gehört. Er gab mir einen Schubs in den Rücken, schloß von außen ab, setzte sich dann auf den Bock – ich merkte es daran, wie der Wagen schwankte –, und wir fuhren los. Ich stellte fest, daß die Fenster nicht einfach verhängt, sondern von innen zugenagelt waren, nicht die kleinste Ritze, durch die ich gucken konnte. Wir fuhren lange. Im Dunkeln konnte ich meine Uhr nicht erkennen, aber ich denke, es verging mehr als eine Stunde. Dann hielt der Wagen. Der Kutscher stieg zu mir, schloß hinter sich die Tür und verband mir die Augen mit einem dicken Tuch.
›Das ist unnötig, isch werde nischt eimlich gucken‹
, sagte ich ihm auf russisch, aber er ließ meine Worte wieder unbeachtet. Er faßte mich um die Taille und stellte mich auf die Erde, dann wurde ich am Arm geführt, aber nicht weit – nur acht Schritte. Verrostete Türangeln quietschten, und es wurde kalt, als hätte ich ein Haus mit dicken Steinmauern betreten.«
    »Jetzt so ausführlich wie möglich«, befahl Karnowitsch streng.
    »Ja, ja. Ich wurde gezwungen, eine steile, aber nicht hohe Treppe hinabzusteigen. Ich zählte zwölf Stufen. Da waren etliche Leute, alles Männer – es roch nach Tabak, Stiefeln und Männerparfüm. Nach englischem. Ich weiß nicht, wie es heißt, aber das kann man Lord Banville und Mr. Carr fragen, sie benutzen das

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