Entführung des Großfürsten
gleiche.«
»Graf Essex«, sagte Fandorin. »Das Modeparfüm der Saison.«
»Mademoiselle, haben Sie Mika gesehen?« fragte Großfürst Pawel aufgeregt.
»Nein, Hoheit.«
»Wieso nicht?« schrie Großfürst Georgi. »Man hat Ihnen meinen Sohn nicht gezeigt, und Sie haben denen trotzdem das Bouquet gegeben?«
Dieser Vorwurf kam mir äußerst ungerecht vor. Als ob sich Mademoiselle einer Bande von Mördern hätte widersetzen können! Andererseits konnte ich die Gefühle des Vaters verstehen.
»Ich habe Michel nicht gesehen, aber ich habe ihn gehört«, sagte Mademoiselle leise. »Ich habe seine Stimme gehört. Der Junge war ganz in der Nähe. Er schlief und phantasierte im Schlaf, wiederholte immerzu: ›Laissez-moi, laissez-moi 16 ,
ich tu es nie, nie wieder …‹«
Sie zog ein Taschentuch hervor und schneuzte laut hinein, merkwürdigerweise dauerte dieser simple Vorgang recht lange. Ich sah alles nur noch verschwommen und begriff nicht gleich, daß Tränen schuld daran waren.
»Also«, fuhr Mademoiselle mit dumpfer, wie erkälteter Stimme fort. »Da es wirklich Michel war, hielt ich die Bedingung für erfüllt und gab ihnen das Täschchen. Einer von den Männern sagte in lautem Flüsterton zu mir: ›Es hat ihm nicht weh getan. Der Finger wurde nach einer Opiuminjektion abgeschnitten. Wenn Sie ein ehrliches Spiel spielen, sind solche extremen Mittel nicht notwendig … Seien Sie morgen zur gleichen Zeit wieder an der gleichen Stelle. Bringen Sie die Brillantagraffe der Kaiserin Anna mit. Wiederholen Sie.‹ Ich wiederholte: ›Die Brillantagraffe der Kaiserin Anna.‹ Das ist alles. Dann haben sie mich wieder zur Kutsche geführt, mich noch lange herumgefahren und dann an einer Brücke abgesetzt. Dort nahm ich eine Mietdroschkeund fuhr bis zur Erlöserkirche, wo mich die Equipage erwartete.«
»Haben Sie uns alles erzählt?« fragte Großfürst Georgi nach einer Pause. »Vielleicht gibt es noch irgendwelche Details. Denken Sie nach.«
»Nein, Euer Hoheit … Höchstens …« Mademoiselle runzelte die Stirn. »Michel hat früher nie im Schlaf gesprochen. Ich fürchte, sie haben dem Kind gestern eine starke Dosis Opium verabreicht.«
Großfürst Pawel stöhnte, und mir ballten sich unwillkürlich die Finger zu Fäusten. Man mußte den Jungen so schnell wie möglich befreien, solange dieser teuflische Lind seine Gesundheit noch nicht völlig zerstört hatte.
»Die Annen-Agraffe! Dieser Strolch hat einen erlesenen Geschmack. Und was sagt der scharfsinnige Herr Fandorin zu all dem?« erkundigte sich Großfürst Simeon sarkastisch, womit er zum erstenmal, soweit ich mich erinnere, das Wort an den Detektiv richtete.
»Meine Überlegungen bin ich b-bereit, nach der morgigen Fahrt von Mademoiselle Déclic darzulegen«, antwortete Fandorin, ohne auch nur den Kopf in Richtung des Großfürsten zu wenden. Halblaut, wie für sich, fügte er hinzu: »Flüsterton? Das ist interessant … Ich bitte die Hoheiten um Erlaubnis, mich entfernen zu dürfen.« Er ließ den Deckel seiner Breguet-Uhr aufschnappen. »Schon neun, ich habe heute abend noch unaufschiebbare Dinge zu erledigen.«
Ja, ja, fiel mir ein. Die Zusammenkunft der Stumpf-Bande.
Ich tat, als wollte ich den übervollen Aschenbecher hinaustragen, und holte Fandorin im Korridor ein.
»Euer Hochwohlgeboren«, sagte ich und zwang mich zu einem bittenden Lächeln. »Nehmen Sie mich mit. Ich werdeIhnen nicht zur Last fallen, vielleicht kann ich Ihnen sogar nützen.«
Dieser Laffe war mir zwar zutiefst zuwider, doch solche Nebensächlichkeiten spielten jetzt keine Rolle. Ich wußte, daß ich nachts sowieso keinen Schlaf finden, sondern immer nur das klägliche Stimmchen des phantasierenden Jungen hören würde. Möglich, daß Karnowitsch recht hatte und Fandorins Plan Blödsinn war, aber immer noch besser als gar nichts tun.
Fandorin sah mir prüfend in die Augen.
»Na gut, Sjukin. Gestern habe ich gesehen, daß Sie kein Feigling sind. Wenn Sie wollen, kommen Sie mit. Ich hoffe, Sie wissen, in was für eine gefährliche Sache Sie sich einlassen?«
Der Japaner und ich blieben hinter der Ecke zurück, Fandorin ging allein vor.
Ich blickte vorsichtig um die Ecke und sah, wie Fandorin, wieder als Macker zurechtgemacht, mit seinem federnden Gang auf der Straßenmitte ging. Am Himmel schien, krumm wie ein türkischer Säbel, der Mond und beleuchtete die Gasse, als wären Laternen angezündet.
Fandorin stieg zu dem Kellertor hinunter, und ich hörte, wie er
Weitere Kostenlose Bücher