Entführung des Großfürsten
besteht aus Schwulen und Tunten.«
»Was, was?« fragte ich.
»Tunten, das sind sozusagen die Mädchen, passive Schwule. In so einer Bande stehen natürlich alle füreinander ein! Und nicht zufällig hat Lind für seine Untaten Moskau gewählt. Dank Onkel Sam ist Moskau für die Schwulen geradezu ein Mekka. Nicht umsonst sagt man: Früher stand Moskau auf sieben Hügeln, jetzt auf einem Hintern.«
Diesen bösen Kalauer, der auf die besonderen Neigungen des Großfürsten Simeon anspielte, hatte ich schon mal gehört. Ich hielt es für meine Pflicht, Endlung entgegenzuhalten: »Nehmen Sie etwa an, Herr Kammerjunker, daß Seine Hoheit der Moskauer Generalgouverneur an der Entführung des eigenen Neffen beteiligt ist?«
»Natürlich nicht!« rief Großfürst Pawel. »Aber um Onkel Sam wuselt so viel Gesindel herum. Nehmen wir bloß unserewerten Gäste Carr und Banville. Der Lord ist uns ja noch halbwegs ein Begriff, obwohl wir ihn auch erst vor drei Monaten kennengelernt haben. Aber wer ist dieser Mr. Carr? Und wieso hat Banville meinen Vater um eine Einladung gebeten?«
»Aber Hoheit, bei so einem Ereignis – einer Krönung.«
»Und wenn es um etwas ganz anderes geht?« Endlung schwenkte seine Pfeife. »Wenn er nun gar kein Lord ist? Besonders verdächtig ist natürlich dieser geleckte Carr. Erinnern Sie sich, die beiden sind am Tag der Entführung hier eingezogen. Sie gehen ständig herum, schnüffeln etwas aus. Ich bin ganz sicher, daß der eine oder der andere mit diesem Lind zu tun hat, vielleicht auch beide.«
»Carr, ohne jeden Zweifel Carr«, sagte der Großfürst überzeugt. »Banville gehört immerhin den höchsten Kreisen an. Die Manieren und die Sprache kann man nicht nachmachen.«
»Aber wer sagt dir, Pollie, daß Doktor Lind nicht den höchsten Kreisen angehört?« erwiderte der Leutnant.
Beide hatten recht, und überhaupt klang alles für meine Begriffe gar nicht so dumm. Das hätte ich nicht erwartet.
»Wollen Sie Ihre Verdachtsmomente nicht Oberst Karnowitsch mitteilen?« schlug ich vor.
»Nein, nein.« Großfürst Pawel schüttelte den Kopf. »Er und dieser Holzkopf Lassowski würden nur alles verderben. Außerdem haben beide im Zusammenhang mit der morgigen Krönung alle Hände voll zu tun.«
»Dann Herrn Fandorin?« sagte ich widerstrebend.
Endlung und der Großfürst sahen sich an.
»Verstehst du, Afanassi«, sagte der Großfürst gedehnt. »Fandorin ist natürlich ein kluger Mann, aber er bereitet offenbar eine schlaue Operation vor. Soll er sie vorbereiten.«
»Wir kommen allein zurecht«, fiel Endlung ein. »Und dann werden wir sehen, wessen Operation schlauer ist. Aber wir brauchen einen Helfer. Also, Sjukin, sind Sie dabei oder nicht?«
Ich willigte ohne Zögern ein. Der Gedanke, mich nützlich machen zu können, noch dazu ohne Herrn Fandorin, beflügelte mich.
»Was soll ich tun?« fragte ich.
»Vorerst müssen wir die beiden beschatten«, erklärte Endlung sachlich. »Pollie kommt dafür nicht in Frage. Das würde auffallen, außerdem hat er alle möglichen Verpflichtungen. Heute abend wird die kaiserliche Familie bis in die Nacht an der Messe teilnehmen, und morgen während der Krönung ist er überhaupt unabkömmlich. Darum haben wir Sie hinzugezogen. Also, ich werde Carr beschatten, und Sie, Sjukin, Banville.«
Ich vermerkte, daß er den Hauptverdächtigen sich selbst vorbehielt, widersprach aber nicht – schließlich war er auf diese Idee gekommen und nicht ich.
»Ach, wie ich euch beneide!« rief Seine Hoheit bedauernd aus.
Gemäß der Absprache setzte ich mich auf das Bänkchen neben die Treppe, wo ich die Tür des Lords im Auge behalten konnte, und las die »Moskauer Nachrichten«. Endlung saß im kleinen Salon und legte sich eine Patience, denn von dort hatte er Mr. Carrs Zimmertür im Blick.
Ich hatte vorsorglich die Livree abgelegt und trug den guten dunkelgrauen Anzug aus englischem Tuch, den mir die Großfürstin im vergangenen Jahr geschenkt hatte. Endlung war auch in Zivil – karierter sandfarbener Zweireiher und geckenhafte Stiefeletten mit weißen Gamaschen.
Um mir die Zeit zu verkürzen, las ich die feierliche Bekanntmachung über die morgige Krönung:
Der Erlauchteste Herrscher und Kaiser Nikolaus Alexandrowitsch, der den von seinen Vätern ererbten Thron des Russischen Reiches, des Königreiches Polen und des Großfürstentums Finnland bestiegen hat, geruhte nach dem Beispiel seiner strenggläubigen Vorfahren zu befehlen:
Die
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