Entführung des Großfürsten
der jedes gesprochene Wort zu meinen Ohren trug, so daß ich zum Lauscher wider Willen wurde, und ich konnte nichts dagegen tun.
»… alles andere ist ohne Bedeutung«, war das erste, was mir der Wind zutrug (die Stimme gehörte Ihrer Hoheit).»Bringen Sie mich weg. Ganz egal, wohin. Mit Ihnen fahre ich auch ans Ende der Welt. Nein, wirklich, machen Sie nicht so ein Gesicht! Wir können uns in Amerika niederlassen. Ich habe gelesen, daß es dort weder Titel noch Standesdünkel gibt. Warum sagen Sie denn nichts?«
Ich peitschte die unschuldigen Pferde, und sie liefen schneller.
»Standesdünkel gibt es in A-Amerika auch, aber darum geht es nicht …«
»Worum dann?«
»Um alles … Ich bin vierzig, Sie sind z-zwanzig. Erstens. Ich bin, wie sich kürzlich Karnowitsch ausdrückte, ›eine Person ohne bestimmte Beschäftigung‹, und Sie, Xenia, sind Großfürstin. Zweitens. Ich kenne das Leben zu gut, und Sie kennen es überhaupt nicht. Drittens. Und nun das Wichtigste: Ich gehöre nur mir, Sie gehören Rußland. Wir können nicht glücklich werden.«
Fandorins Angewohnheit, alle Argumente zu numerieren, kam mir diesmal albern vor, aber ich muß zugeben, daß er sich als verantwortungsbewußter Mensch erwies. Nach dem langen Schweigen zu urteilen, hatten seine zutreffenden Worte Ihre Hoheit ernüchtert.
Nach einer Weile fragte sie leise: »Lieben Sie mich nicht?« Und nun verdarb er alles!
»Das habe ich nicht g-gesagt. Sie … Sie haben mich aus dem s-seelischen Gleichgewicht gebracht«, sagte er, wobei er mehr als sonst stotterte. »Ich hätte nicht g-gedacht, daß mir so etwas noch passieren kann, aber nun scheint es p-passiert zu sein …«
»Also lieben Sie mich? Sie lieben mich?« drang sie in ihn. »Wenn ja, ist alles übrige unwichtig. Wenn nicht, erst recht. Ein Wort, nur ein Wort. Nun?«
Es ging mir zu Herzen. In ihrer Stimme klang so viel Hoffnung und Angst, und zugleich konnte ich nicht umhin, ihre Entschlossenheit und edle Direktheit zu bewundern.
Natürlich antwortete der verschlagene Verführer: »Ja, ich l-liebe Sie.«
Wie hätte er sich auch unterstehen sollen, Ihre Hoheit nicht zu lieben!
»Zumindest bin ich v-verliebt«, korrigierte er sich sofort. »Verzeihen Sie, aber ich werde ganz o-offen sprechen. Sie haben m-mir völlig den Kopf verdreht, aber … Ich bin nicht sicher … ob es mir nur um Sie geht … Vielleicht hat auch die M-Magie des Titels eine Rolle gespielt … Dann wäre es schändlich … Ich f-fürchte, mich Ihrer Liebe unwürdig zu erweisen …«
Er machte jetzt einen kläglichen Eindruck, dieser heroische Herr, zumindest im Vergleich mit der Großfürstin, die bereit war, für ihr Gefühl alles aufzugeben, und hier bedeutete das Wort »alles« so viel, daß mir der Atem stockte.
»Und dann …«, das sagte er zurückhaltend und traurig, »stimme ich nicht mit Ihnen darin überein, daß alles außer der Liebe unwichtig ist. Es gibt Dinge, die wiegen schwerer als die Liebe. Das ist wohl die wichtigste Lehre, d-die ich aus meinem Leben gezogen habe.«
Die Großfürstin sagte mit klangvoller Stimme: »Erast Petrowitsch, Sie waren ein schlechter Schüler des Lebens.« Dann rief sie mir zu: »Afanassi, wir fahren zurück!«
Während des ganzen Rückwegs wechselten sie kein Wort mehr.
Die Beratung, die der Fahrt von Mademoiselle Déclic zum nächsten Treffen mit Lind vorausging, fand ohne mich statt,denn keiner der Großfürsten nahm daran teil, und es mußten keine Getränke gereicht werden.
Ich wartete im Korridor. Da die Großfürstin fürs erste außer Gefahr war, konnte ich mich auf das Wichtigste konzentrieren – das Schicksal des gefangenen Großfürsten. Die Worte der weisen Frau Sneshnewskaja, man müsse das Kleinere zugunsten des Größeren opfern, fraßen mir an der Seele, aber sie wußte ja nichts von Fandorins Plan. Noch blieb Hoffnung – alles hing davon ab, ob Mademoiselle das Versteck ermitteln konnte.
Die Beratung dauerte nicht lange. Ich paßte Mademoiselle im Korridor ab, und sie sagte mir auf französisch:
»Bloß nicht durcheinanderkommen. Ich habe die letzte Nacht nicht geschlafen, sondern mein Gedächtnis trainiert. Erast hat gesagt, das beste Mittel dafür sei, Gedichte auswendig zu lernen, deren Sinn nicht ganz verständlich ist. Ich habe Zeilen von Ihrem schrecklichen Dichter Puschkin gelernt. Hören Sie.
O ihr, vor deren Söldnerschwaden
Europas Menschheit noch erbleischt –
Willkommner Fraß seid ihr den feisten Gräbermaden!
Was
Weitere Kostenlose Bücher