Entführung des Großfürsten
allerheiligste Krönung Seiner Kaiserlichen Majestät und die heilige Salbung wird mit Hilfe des Allerhöchsten am 14. Tag des Monats Mai vonstatten gehen. An dieser heiligen Handlung wird auf Weisung Seiner Kaiserlichen Majestät auch Seine Gemahlin teilhaben, die Herrscherin und Kaiserin Alexandra Feodorowna. Die Feierlichkeit wird allen treuen Untertanen hiermit kundgetan, auf daß sie an diesem heißersehnten Tag ihre Gebete zum Allmächtigen verstärken, mit all ihrer Kraft der Herrschaft Seiner Majestät die Treue halten und Frieden und Ruhe bewahren, zum heiligen Ruhm und zur unwandelbaren Wohlfahrt des Reiches.
Die erhabenen, von hoher Würde getragenen Worte erfüllten meine Seele mit Ruhe und Zuversicht. Die Lektüre offizieller Dokumente wirkte auf mich immer wohltuend, insonderheit jetzt, da die Unerschütterlichkeit der russischen Monarchie sich plötzlich als bedroht erwiesen hatte.
Mit Befriedigung studierte ich auch die Zusammensetzung des Herold-Kommandos, das diese Bekanntmachung täglich auf dem Senatsplatz des Kreml verlesen würde: »Ein Generaladjutant im Range eines Generals, zwei Generaladjutanten im Range von Generaladjutanten, zwei Oberzeremonienmeister der Krönung, zwei Herolde, vier Zeremonienmeister, zwei Senatssekretäre, zwei Kavallerieabteilungen – die eine vom Gardekavallerieregimentder Zarinmutter Maria Feodorowna, die andere vom Leibgardekavallerieregiment, mit Paukenschlägern und Posaunenbläsern; jede Abteilung hat zwei Bläser, deren Posaunen goldbrokatene Fahnen mit dem Staatswappen tragen, und zwölf Reitpferde mit reichen Schabracken.« Was für eine Schönheit! Was für eine Musik in jedem Wort, im Klang jedes Titels und Ranges!
Im vergangenen Jahr hatte die neue Kaiserin, die russischer sein wollte als die Russen, fast eine Palastrevolution ausgelöst, denn sie wollte die deutschen Namen der Hoftitel durch altmoskowitische ersetzen. Unter den Hofdienern herrschte helle Aufregung, die nach Endlungs Worten an Brüllows Bild »Der letzte Tag von Pompeji« erinnerte, aber glücklicherweise scheiterte das Vorhaben. Als Oberhofmarschall Fürst Alten-Coburg-Swjatopolk-Bobruiski erfuhr, daß er nach der neuen (genauer, alten) Regelung »Haushofmeister« heißen sollte, hatte er mächtig getobt, und das Projekt war dem Vergessen überantwortet worden.
Durch ein Löchlein, das ich in das Zeitungsblatt gebohrt hatte, sah ich Mr. Freyby den Korridor entlangkommen. Ich tat, als sei ich in die Lektüre vertieft, aber der Engländer blieb stehen und begrüßte mich.
Gewöhnlich tat mir die Gesellschaft des Butlers gut, aber jetzt störte er mich, denn jeden Augenblick konnte Lord Banville aus seinem Zimmer kommen.
»Good news?« fragte Freyby mit Blick auf die Zeitung und zog das Wörterbuch aus der Tasche.
»Gut … Neuigkeit?«
Ich hatte mein Wörterbuch nicht bei mir, es war in der Livree geblieben, darum beschränkte ich mich auf ein einfaches Nicken.
Der Engländer musterte mich aufmerksam und sagte einenSatz, der aus vier kurzen Wörtern bestand. Wieder raschelte er mit dem Wörterbuch.
»Du … schauen … besser … heute.«
Ich fuhr zusammen und starrte erschrocken in sein rosiges Gesicht. Wußte er von unserem Plan? Was wußte er überhaupt?
Der Butler lächelte wohlwollend und schritt mit einer Verbeugung weiter.
Fünf Minuten später kam Mr. Carr in den Korridor. Er sah recht eigentümlich aus: ungeachtet des klaren warmen Wetters war er in einen fersenlangen Umhang gehüllt; ein breiter Hut mit herabhängender Krempe saß ihm fast auf der Nase, dazu trug er Schuhe mit hohen und ziemlich dünnen Absätzen. Durch das Löchlein meiner Zeitung sah ich, daß der englische Gentleman stärker als gewöhnlich geschminkt war.
Mr. Carr trippelte graziös zum Ausgang. Kurz darauf schlenderte, sorglos pfeifend, Endlung an mir vorbei. Er drehte sich um und zwinkerte mir zu, und ich blieb auf meinem Posten.
Aber ich mußte nicht lange warten. Ein paar Augenblicke später knarrte die Tür des Lords, und Banville ging auf Zehenspitzen ebenfalls zum Ausgang. Auch er trug einen Umhang, allerdings nicht so einen langen wie Mr. Carr.
Das alles war rätselhaft. Ich wartete ein wenig, setzte die Melone auf und schloß mich dieser merkwürdigen Prozession an.
Heute war das Zarenpaar aus dem Alexandra-Schloß in den Kreml umgezogen, darum waren die Agenten aus dem Park verschwunden, gerade zur rechten Zeit, denn einem Beobachter wären unsere Manöver zweifellos verdächtig
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