Entführung des Großfürsten
vorgekommen.
Ich konnte Endlung nicht warnen, denn ich wollte Lord Banville nicht auf mich aufmerksam machen, und der Leutnant kam nicht auf die Idee, sich umzudrehen. Doch bald merkte ich, daß Mylord überhaupt nicht an Endlung interessiert war, sondern an Mr. Carr.
Vor dem Tor setzte sich letzterer in eine Droschke und fuhr Richtung Kalugaer Platz davon. Beim Einsteigen raffte er seinen Umhang, und in der untergehenden Sonne blinkte etwas Helles, Schillerndes, das wie ein Brokat- oder Atlaskleid aussah.
Endlung klapperte mit seinem Stöckchen übers Trottoir, hielt eine entgegenkommende Droschke an, wechselte mit dem Kutscher ein paar Worte und rollte in dieselbe Richtung davon. Banville hatte kein Glück – es kam keine Droschke mehr. Er lief auf die Fahrbahn und blickte den beiden davonfahrenden Wagen hinterher. Ich versteckte mich für alle Fälle im Gebüsch.
Es vergingen fünf Minuten, vielleicht auch zehn, bis Mylord eine Droschke ergatterte. Offenbar wußte oder ahnte er, wohin Mr. Carr gefahren war, denn er rief dem Kutscher etwas sehr Kurzes zu, und das Gefährt ratterte übers Pflaster.
Jetzt war es an mir, nervös zu werden. Doch ich wartete nicht auf eine freie Droschke, sondern hielt einen Wasserfahrer an, steckte ihm zwei Silberrubel zu und setzte mich vorn neben das Faß. Der Mann gab seinem Lastpferd die Peitsche, das schüttelte die zottige Mähne, schnaubte und trabte nicht schlechter als eine Droschkenstute über die breite Straße. Wahrscheinlich wirkte ich in meinem soliden Anzug überaus sonderbar auf dem Leiterwagen, aber das war jetzt gleichgültig – Hauptsache, ich verlor Lord Banville nicht aus dem Auge.
Wir überquerten die mir schon bekannte Krim-Brücke, bogen in Seitengassen, ließen rechter Hand die Erlöserkirche hinter uns zurück und gelangten auf eine reiche, schöne Straße, in der ausschließlich Villen und Paläste standen. Vor einem der Häuser, mit hell erleuchteter Auffahrt, hielt eine Equipage nach der anderen. Dort stieg auch Banville aus, nachdem er den Kutscher entlohnt hatte. Er schritt an dem imposanten goldbetreßten Portier vorbei und verschwand durch die hohe, stuckverzierte Tür. Ich blieb auf dem Trottoir stehen, während der Wasserfahrer mit seinem Faß und meinen zwei Rubeln weiterrumpelte.
Augenscheinlich fand in der Villa ein Maskenfest statt, denn alle Ankömmlinge trugen Masken. Als ich mir die Gäste genauer ansah, entdeckte ich, daß sie sich in zwei Typen unterteilten: in Männer in gewöhnlichem Frack oder Anzug und in Personen unbestimmten Geschlechts mit überlangem Umhang, so wie Mr. Carr. Etliche kamen paarweise, Arm in Arm, und ich erriet, was für eine Art Zusammenkunft hier stattfand.
Jemand faßte mich von hinten am Ellbogen. Ich drehte mich um – Endlung.
»Das ist das ›Elysium‹«, flüsterte er mit blitzenden Augen. »Ein privilegierter Klub für Moskauer Homos. Meiner ist auch dort.«
»Mr. Carr?« fragte ich
Der Leutnant nickte und zwirbelte besorgt den weizenblonden Schnurrbart.
»Da kommt man nicht so einfach hinein. Man muß sich zurechtmachen. Heureka!« Er klopfte mir auf die Schulter. »Mir nach, Sjukin! Fünf Minuten von hier ist das Varieté-Theater, dort habe ich viele Freundinnen.«
Er faßte mich unter und führte mich die rasch dunkelnde Straße entlang.
»Haben Sie gesehen, daß manche einen bodenlangen Umhang anhaben? Das sind Tunten, die tragen darunter Frauenkleider. Aus Ihnen, Sjukin, wird keine Tunte. Na schön, dann werde ich um der kaiserlichen Familie willen eine Heldentat begehen und mich als Tunte verkleiden.«
»Und was werde ich sein?« fragte ich.
»Eine Tante. So heißen die Beschützer der Tunten.«
Wir gingen zum Bühneneingang des Theaters. Der Pförtner machte vor Endlung eine tiefe Verbeugung und nahm sogar die Mütze ab, wofür er vom Leutnant eine Münze bekam.
»Schnell, schnell«, trieb mich der energische Kammerjunker an und stürmte eine steile und nicht sehr saubere Treppe hinauf. »Wohin am besten? In die Garderobe von Sisi. Jetzt ist es fünf vor neun, da ist bald Pause.«
In der leeren Garderobe setzte er sich vor den Spiegel, als wäre er hier zu Hause, betrachtete kritisch sein Gesicht und sagte seufzend: »Verdammt, der Schnurrbart muß runter. Solch ein Opfer hat die russische Flotte seit der Versenkung des Schwarzmeer-Geschwaders nicht gebracht. Na, ihr englischen warmen Brüder, das werdet ihr mir büßen …«
Mit ruhiger Hand nahm er eine Schere vom Tischchen und
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