Entführung des Großfürsten
keine Antwort bekommen würde, und fuhr fort: »Der ›Orlow‹ wurde mir unter einer Bedingung anvertraut. Ich habe mich verbürgt, daß der Stein auf keinen Fall bei Lind bleiben wird.
Auf gar keinen Fall
«, wiederholte er bedeutungsvoll.
Ich nickte und sagte: »Das heißt, wenn man zwischen dem Leben Seiner Hoheit und dem Brillanten wählen muß …«
»Sehr richtig.«
»Aber was für eine Sicherheit gibt es, daß der Doktor sich nicht trotzdem den ›Orlow‹ aneignet? Kann Mademoiselle ihn etwa daran hindern? Und außerdem, Sie sprachen von unterirdischen Gängen …«
»Ich habe Lind eine Bedingung gestellt, die ihm vorgestern von Emilie übermittelt wurde. Da es nicht um einen gewöhnlichen Edelstein geht, sondern um eine heilige Reliquie, darf der B-Brillant nicht einer schwachen Frau anvertraut werden. Ein Leibwächter soll die Gouvernante begleiten. Er hat keine Waffe bei sich, so daß Lind keinen Überfall zu befürchten braucht …«
»Und wer ist der Leibwächter?«
»Ich«, sagte Fandorin traurig. »Gut ausgedacht, nicht wahr?«
»Und?«
»Es hat nicht geklappt. Ich habe einen alten gebeugten Kammerlakaien aus mir gemacht, aber offenbar nicht sorgfältig genug. Emilie und ich haben über eine Stunde in der Kirche gestanden. Niemand hat uns angesprochen. Vorgestern hingegen, als sie allein war, gab es keine Komplikationen. Wieder ein Zettel, ein geschlossener Wagen in einer der umliegenden G-Gassen, und so weiter. Doch gestern habenwir bis viertel sieben gewartet und mußten unverrichteter Dinge zurückkehren.«
»Verzichtet Lind auf den Austausch?« fragte ich verzagt.
»Sieht nicht so aus. In der Eremitage erwartete uns ein Brief, wie auch die anderen mit dem Postboten zugestellt und ohne Stempel. Da, l-lesen Sie, zumal es Sie unmittelbar angeht.«
Ich nahm vorsichtig das Blatt in die Hand, das ganz leicht nach Parfüm duftete.
»›Graf Essex‹?«
»Richtig. Aber l-lesen sie, lesen Sie.«
»Ich habe beschlossen, der Dynastie Romanow zur Krönung ein großzügiges Geschenk zu machen«
,
las ich den ersten französischen Satz, und mir verschwamm alles vor den Augen. Sollte …?
Aber nein, meine Freude war verfrüht. Ich blinzelte, um den Nebel zu vertreiben, und las den Brief zu Ende:
Ich habe beschlossen, der Dynastie Romanow zur Krönung ein großzügiges Geschenk zu machen – eine Million. Denn auf diese Summe beläuft sich die verabredete tägliche Ratenzahlung für den »Orlow«, den ich entgegenkommenderweise der russischen Dynastie geliehen habe. Also, Sie dürfen den Stein noch einen Tag besitzen, und zwar ganz kostenlos. Ihnen einen so feierlichen Tag zu verdüstern wäre doch unhöflich.
Wir werden unsere kleine Transaktion morgen abwickeln. Die Gouvernante soll um sieben Uhr abends in der Kirche sein. Ich habe Verständnis dafür, daß Sie eine solche Kostbarkeit nicht dieser Frau anvertrauen möchten, und bin einverstanden mit
einem Begleiter. Aber das muß ein Mensch sein, den ich kenne, nämlich Monsieur Hundebart.
Aufrichtig Ihr
Doktor Lind.
Mein Herz pochte.
»Ach, darum haben Sie mir das alles erzählt?«
»Ja.« Fandorin sah mir prüfend in die Augen. »Ich möchte Sie bitten, Afanassi Stepanowitsch, an dieser gefährlichen Unternehmung teilzunehmen. Sie sind kein Polizeiagent und kein Soldat, und Sie sind nicht verpflichtet, Ihr Leben für die I-Interessen des Staates aufs Spiel zu setzen, aber die Umstände haben sich so gefügt, daß ohne Ihre Hilfe …«
»Ich bin bereit«, unterbrach ich ihn.
In diesem Augenblick hatte ich überhaupt keine Angst. Ich dachte nur an eines: Ich werde mit Emilie zusammen sein. Das war wohl das erste Mal, daß ich Mademoiselle in Gedanken beim Vornamen nannte.
Fandorin erhob sich.
»Dann ruhen Sie sich erst mal aus, Sie sind sicher müde. Kommen Sie um zehn in den S-Salon. Ich werde Ihnen und Emilie ein paar Instruktionen geben.«
Die späte Sonne erwärmte die Samtvorhänge, darum roch es in dem schattigen Salon nach Staub. Mit Samt hat man immer Probleme, das liegt am Material: Wenn er jahrelang hängt, ohne regelmäßig gewaschen zu werden, wie zum Beispiel hier in der Eremitage, bekommt man den eingefressenen Staub nie mehr richtig heraus. Ich nahm mir vor, noch heute die Vorhänge auswechseln zu lassen. Falls ich lebend von der Operation zurückkehrte.
Ein glücklicher Ausgang des geplanten Unternehmens schien mir sehr zweifelhaft. An der letzten – voraussichtlich
allerletzten
– Besprechung
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