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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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mitreißen und malte meinem dankbaren Zuhörer noch lange den Verlauf der großen Zeremonie aus, wobei ich immer wieder durch einen Blick auf die Uhr prüfte, ob ich auch nicht vorauseilte. Und als ich sagte: »Jetzt sind Zar und Zarin die Rote Treppe hinaufgestiegen, sie verneigen sich dreimal vor allem Volk. Und nun wird Salut geschossen«, da krachte es in der Ferne wirklich, und es dauerte einige Minuten, denn laut Zeremoniell mußten die Kanonen 101 Schüsse abfeuern.
    »Wie schön Sie das alles beschreiben«, sagte Endlung gefühlvoll. »Als hätte ich es mit eigenen Augen gesehen, sogar besser. Bloß das mit dem lackierten Kasten und dem Mann, der die Kurbel dreht, das habe ich nicht verstanden.«
    »Ich verstehe es selber nicht richtig«, bekannte ich, »aber ich habe in den ›Hofnachrichten‹ gelesen, daß die Krönung festgehalten wird mit einem ganz neuen kinematographischen Apparat, für den eigens ein Mann angestellt wurde, der eine Kurbel dreht, und damit bringt er angeblich bewegte Bilder hervor.«
    »Was die sich alles ausdenken«, sagte der Leutnant und schielte traurig zu dem grauen Fensterchen. »Nun ballern sie nicht mehr, und man hört, wie es im Bauch grummelt.«
    Ich bemerkte zurückhaltend: »In der Tat, ich würde auch sehr gern etwas essen. Ob sie uns wirklich verhungern lassen?«
    »Ach, Sjukin«, entgegnete er. »Verhungern werden wir nicht, sondern verdursten. Ohne Nahrung kann der Mensch zwei, vielleicht auch drei Wochen überleben. Ohne Wasser halten wir keine drei Tage durch.«
    Meine Kehle war wirklich ganz ausgetrocknet, und in unserem Verlies wurde es schwül. Endlung hatte das Frauenkleid längst ausgezogen und trug nur die Unterhose und ein enganliegendes weiß-blau gestreiftes Trikot, ein sogenanntes Matrosenhemd. Das zog er jetzt auch noch aus, und ich sah auf seiner kräftigen Schulter eine Tätowierung – die ziemlich naturalistische Darstellung eines männlichen Glieds mit bunten Libellenflügeln.
    »Das haben sie mir in einem Bordell in Singapur verpaßt«, erklärte der Leutnant, als er mein Befremden sah. »Damals war ich noch ein kleiner Fähnrich. Es ging um eine Wette, um eine Mutprobe. Jetzt kann ich kein anständiges Fräulein mehr heiraten. So werd ich wohl als Junggeselle sterben.«
    Den letzten Satz sagte er übrigens ohne das geringste Bedauern.
     
    Den ganzen Nachmittag ging ich nervös in der Zelle auf und ab und litt zunehmend unter Hunger, Durst und Untätigkeit. Von Zeit zu Zeit schrie ich zum Fenster hinauf oder hämmerte gegen die Tür – ohne Resultat.
    Endlung unterhielt mich aus Dankbarkeit für meine Schilderungder Krönung mit endlosen Geschichten von Schiffsuntergängen und unbewohnten Inseln, auf denen Seeleute verschiedener Nationalitäten ohne Nahrung und Wasser elendiglich zugrunde gegangen waren.
    Es dunkelte schon, als er eine herzzerreißende Geschichte von einem französischen Offizier erzählte, der gezwungen war, seinen Leidensgefährten, einen Kammeroffizier, aufzuessen.
    »Und was denken Sie?« schwadronierte der halbnackte Kammerjunker aufgelebt. »Später sagte Leutnant du Belle vor Gericht aus, das Fleisch des Kammeroffiziers habe eine dünne Speckschicht gehabt, sei sehr zart gewesen und habe wie Spanferkel geschmeckt. Das Gericht sprach ihn frei unter Berücksichtung der außergewöhnlichen Umstände und in Anbetracht der Tatsache, daß du Belle der einzige Sohn seiner alten Mutter war.«
    An dieser Stelle wurde die lehrreiche Erzählung unterbrochen, denn plötzlich ging die Tür lautlos auf, und wir blinzelten in das helle Licht einer Laterne.
    Der verschwommene Schatten in der Türöffnung sagte mit der Stimme Foma Anikejewitschs: »Ich bitte um Verzeihung, Afanassi Stepanowitsch. Gestern habe ich Sie natürlich unter dem roten Bart erkannt, aber mir wäre nie in den Sinn gekommen, daß alles so übel ausgehen könnte. Heute habe ich beim Empfang im Facettenpalast zufällig gehört, wie zwei Stammgäste des bewußten Etablissements miteinander tuschelten und sich lachend daran erinnerten, daß sie zwei ›Sittenwächtern‹ eine Abreibung verpaßt hätten. Ich dachte mir, daß Sie damit gemeint sein könnten.« Er kam näher und fragte teilnahmsvoll: »Wie geht es Ihnen, meine Herren, ohne Wasser, ohne Essen, ohne Licht?«
    »Schlecht! Sehr schlecht!« schrie Endlung und warf sich unserem Befreier an die Brust. Ich denke, daß ein solches Ungestüm seitens des verschwitzten halbnackten Mannes kaum nach Foma Anikejewitschs

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