Entführung des Großfürsten
Geschmack war.
»Das ist der Kammerjunker Filipp Nikolajewitsch Endlung«, stellte ich vor. »Und das ist Foma Anikejewitsch Sawostjanow, Haushofmeister Seiner Hoheit des Moskauer Generalgouverneurs.« Nachdem der Höflichkeit Genüge getan war, fragte ich nach der Hauptsache: »Wie geht es dem Großfürsten Michail? Ist er frei?«
Foma Anikejewitsch breitete die Arme aus.
»Darüber weiß ich nichts. Wir haben unser eigenes Unglück. Fürst Glinski hat sich erschossen. Schrecklich.«
»Erschossen?« wunderte ich mich. »Hat er sich denn nicht mit Lord Banville duelliert?«
»Man sagt, er habe sich erschossen. Gefunden wurde er im Park von Petrowsko-Rasumowskoje, mit einer Schußwunde im Herzen.«
»Also hat der Kornett kein Glück gehabt.« Endlung zog sein Kleid an. »Der Engländer hat nicht danebengeschossen. Schade. Der Fürst war ein feiner Kerl, wenn auch vom anderen Ufer.«
15. Mai
»Außerdem hat der Gehilfe des Büfettmeisters einen Wildbretteller vom Sèvres-Service zerschlagen. Ich habe vorerst angeordnet, ihm zur Strafe von seinem Monatsgehalt die Hälfte abzuziehen, das übrige bleibt Ihnen überlassen. Nun zu Petristschewa, der Zofe Ihrer Hoheit. Der Lakai Krjutschkow hat mir gemeldet, daß sie mit dem Kammerdiener von Herrn Fandorin in recht eindeutiger Situation im Gebüsch gesehen wurde. Ich habe keinerlei Maßnahmen getroffen, da ich nicht weiß, wie Sie mit derartigen Entgleisungen umgehen …«
»Beim erstenmal eine Ermahnung«, erklärte ich Somow und blickte vom Teller auf. »Beim zweitenmal eins hinter die Ohren. Wenn sie schwanger wird – ein Abstandsgeld. Wir sind da sehr streng.«
Vor dem Fenster wurde es hell, doch in der Küche brannte Licht. Ich hatte mit Heißhunger die aufgewärmte Suppe gegessen und nahm mir nun die Koteletts à la Rohan vor. Mehr als vierundzwanzig Stunden keinen Bissen in den Mund kriegen, das war kein Spaß.
Nach unserer Befreiung aus dem Kerker hatte ich mich von Endlung getrennt. Der Leutnant ging ins Varieté, um sich umzuziehen. Er wollte mich mitnehmen und sagte, daß die Mädchen gleich beim Theater wohnten, daß sie uns zu essen und zu trinken geben und uns verwöhnen würden.
Aber ich hatte Wichtigeres zu tun. Die hauswirtschaftlichen Probleme fielen nicht darunter, weshalb ich meinem Gehilfen nicht sehr aufmerksam zuhörte.
»Wie ist die Krönung verlaufen?« fragte ich mit dem Hintergedanken, daß Somow vielleicht etwas von der gestrigen Operation wußte. Er schien nicht auf den Kopf gefallen zu sein. Jedenfalls fragte er mich nicht nach den Gründen meiner Abwesenheit. Vielleicht sollte ich mich beiläufig bei ihm erkundigen, ob Großfürst Michail schon aus Iljinskoje zurückgekommen war.
»In aller Pracht und Herrlichkeit. Aber«, Somow senkte die Stimme, »unter unseren Leuten wird gemunkelt, daß es schlechte Vorzeichen gab …«
Ich wurde hellhörig. Schlechte Vorzeichen an solch einem Tag – das muß man ernst nehmen. Die Krönung ist ein herausragendes Ereignis, da ist jede Kleinigkeit von Bedeutung. Unter uns Haushofmeistern gibt es Wahrsager, die den gesamten Verlauf der Zeremonie in Stunden zerlegen, um herauszufinden, wie sich die Regierungszeit gestalten wird und an welchem Abschnitt Erschütterungen zu erwarten sind. Zugegeben, das ist Aberglauben, aber manche Anzeichen kann man nicht so einfach abtun. Bei der Krönung Alexanders II. beispielsweise ist auf dem abendlichen Empfang aus heiterem Himmel eine Flasche Champagner auf der Festtafel zerplatzt, so als wäre eine Bombe explodiert. Damals, 1856, gab es noch keine Bombenwerfer, darum wußte niemand diesen Vorfall zu deuten. Erst ein Vierteljahrhundert danach wurde es klar. Und bei der letzten Krönung hatte sich der Zar früher als vorgeschrieben die Krone auf die Stirn gesetzt, und es wurde geflüstert, daß seine Herrschaft nicht lange dauern werde. So kam es auch.
»Als erstes«, erzählte Somow nach einem Blick zur Tür, »hat der Coiffeur, als er Ihrer Majestät mit einer Haarnadel die Krone an der Frisur feststeckte, vor Aufregung so kräftig zugestochen, daß die Herrscherin aufschrie. Es hat sogar geblutet … Und dann, schon nach Beginn der Prozession, ist Seiner Majestät ein Malheur passiert: der Andreas-Orden fiel ihm zu Boden, weil die Kette plötzlich riß. Von der Haarnadel wissen nur unsere Leute, aber den Vorfall mit dem Orden haben viele gesehen.«
Ja, das ist schlecht, dachte ich. Aber es hätte weitaus schlimmer kommen können. Hauptsache, die
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