Enthuellungen eines Familienvaters
denkt immer an die anderen und nie an sich selbst“, sagte sie. „Warum nicht auch an uns selbst eine Karte schicken? Du schickst eine an mich, ich schicke eine an dich. Wenn wir heimkommen, bekommt jeder seine Karte. Es macht immer Freude, wenn man sieht, daß sich irgend jemand unserer erinnert.“
So schrieb ich eine Karte an Margherita. Margherita schrieb eine Karte an mich. Dann warfen wir sie ein und beschäftigten uns weiter mit Venedig. Und es lohnte wirklich der Mühe, denn es war ein sehr schöner Tag.
„Venedig“, bemerkte Margherita, „ist eine Stadt, die wir alle kennen, ohne sie jemals gesehen zu haben; und wenn wir sie gesehen und wieder gesehen haben, wissen wir nicht, wie sie ist. Es ist mit einem Wort eine Stadt, wo einer immer gewesen ist, auch wenn er nie dort gewesen ist, und wo einer immer zum erstenmal ankommt, auch wenn er zum hundertstenmal hinkommt.“
Ich antwortete ihr, das komme vielleicht daher, daß jeder von uns jeden Tag Ansichtskarten von Venedig bekommt und, wenn er nach Venedig fährt, den größten Teil seiner Zeit damit verbringt, Ansichtskarten an seine Bekannten zu schreiben.
Es war Nacht geworden, als wir in den kleinen Dampfer stiegen, der uns zum Bahnhof bringen sollte, die Lagune blitzte von Lichtern. „Venedig“, seufzte Margherita, „wir fahren fort, aber nicht ganz, denn irgend etwas von uns bleibt zurück.“
Carlotta fragte dann, wie sich „die da“ aufgeführt habe und ob sie mich zu vielen Geldausgaben verleitet habe.
„Halb und halb“, antwortete ich; da zog Carlotta unter dem Kissen ein Knäuel mit drei Lire hervor.
„Ich habe ein Autorad verkauft“, erklärte sie und hielt mir die drei Lire hin. Und sie seufzte, wie um auszudrücken, daß angesichts einer derart gewissenlosen Mutter die Tochter sich opfern müsse, um dem Vater zu helfen. Und das bewegte mich doch sehr, wenn ich davon absehe, daß das Auto Albertino gehörte.
Und es verging ein Tag, und ich bekam eine Karte aus Venedig, und ich begriff nicht gleich, wer sie mir geschickt hatte.
„Ich bin es, die auch in der Ferne an dich denkt“, erklärte Margherita, und da erinnerte ich mich.
„Und du, Margherita?“ fragte ich.
„Noch nichts“, seufzte sie.
Als ich am nächsten Tag zum Essen heimkam, fand ich Margherita sehr betrübt.
„Es ist noch nichts gekommen“, erklärte sie.
„Das verstehe ich nicht!“ rief ich. „Wir haben die Karten doch zusammen eingeworfen.“
„Nicht von Bedeutung“, antwortete Margherita. „Es ist nicht von Bedeutung...“
Es verging noch ein Tag. Am Abend war Margherita vollkommen untröstlich.
„Nichts von Venedig?“
„Noch nichts.“
Es war Mittwoch; Donnerstag und Freitag war ich unterwegs. Ich kam am Samstag früh zurück und begriff sofort, daß „das von Venedig“ noch nicht aufgetaucht war.
Margherita hatte sich in ein düsteres Schweigen gehüllt, und ich versuchte, sie zu trösten.
„Man muß Geduld haben“, sagte ich. „Es ist nun einmal so bei der Post.“
„Es ist nun einmal so bei den Menschen!“ entgegnete Margherita. Es verging der Montag, der Dienstag.
„Heute nacht habe ich geträumt, du wärest tot“, sagte Margherita am Mittwoch früh sehr erregt. „Sie hatten dich in der Lagune aufgefischt, und du hattest in der Tasche die Karte, die du vergessen hattest, einzuwerfen.“
„Siehst du, Margherita!“ rief ich. „Ich bin keiner von denen, bei ,denen es nun einmal so ist“, wie du mich angeklagt hast.“ Margherita war ganz verstört, und auch ich fühlte mein Blut zu Eis gerinnen.
„Giovannino!“ rief Margherita ängstlich. „Glaubst du nicht, daß dies kein Traum, sondern Wirklichkeit ist, und daß du wirklich tot in der Lagune schwimmst?“
„Ja, Margherita, das kann sein. Aber ich bin doch andererseits lebendig hier, mit Fleisch und Knochen!“ sagte ich.
„Verstehst du nicht, daß in gewissen Fällen die Realität und die Materie nicht mehr zählen, daß nur mehr die Vermutung gilt? Bist du auch so wie Albertino, für den die Persönlichkeit seines Vaters durch sein Gewicht und seinen Rauminhalt gegeben ist? Giovannino, denkst du nicht, daß ich, wenn du auch lebendig hier bist mit all deinen Zentimetern und Grammen, gleichwohl deine Witwe sein könnte?“
Margherita ist kein Wesen, das logisch denkt, und gerade dadurch gelangt sie zu solchen Wahrheiten höherer Ordnung, zu denen man mit logischem Denken unmöglich kommen kann, weil das logische Denken Mathematik ist, die Wahrheiten
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