Entrissen
genommen hat, ist dieser Verlust meistens ein Lebensthema. Aber ihnen wird die Suche noch erheblich erschwert. Sie wissen häufig nicht einmal, in welcher Stadt sie mit ihren Nachforschungen ansetzen sollen. Mit einer Adoption haben ihre Sprösslinge nicht nur den Namen, sondern gelegentlich auch den Wohnort gewechselt. Was noch gravierender ist: Die leiblichen Eltern haben jedes Recht an ihren Kindern verloren. Gesetzlich sind ihre Nachkommen mit der Adoption durch eine andere Familie für sie Fremde geworden, auf die sie keinen Anspruch erheben dürfen. Wenn sie nicht an einen verständnisvollen Sachbearbeiter geraten, bleibt ihnen nur die Recherche an den offiziellen Stellen vorbei oder die vage Hoffnung, dass sich ihr Nachwuchs eines Tages von sich aus meldet.
Auch psychologische Barrieren halten Betroffene oft von der Suche ab. Seit dem Verlust des Kindes leiden viele Eltern unter massiven Schuldgefühlen. Der Vorwurf, sich nicht ausreichend um den Zusammenhalt der Familie gekümmert zu haben, die Schmach von Haft, Strafverfolgung oder Landesflucht lastet schwer auf der Seele, auch wenn sie selbst an diesem Los keine Schuld trifft. Hemmend wirkt sich auch die Angst aus, dass sie beim Versuch einer Kontaktaufnahme zurückgewiesen werden könnten, was psychologisch einer erneuten Durchtrennung der Nabelschnur gleichkommt. Jahrzehnte der Entzweiung lassen sich nun mal nicht mit einem Telefonanruf überbrücken.
So manche leibliche Mutter, die ihrem sozialen Umfeld nichts von ihrer Vergangenheit erzählt hat, scheut sich nun, daran zu rühren. Auch Ressentiments sind häufig im Spiel. Mitunter durch üble Nachreden beeinflusst, ist kaum ein Betroffener völlig frei davon, seine leiblichen Eltern misstrauisch als Rabenmutter oder -vater zu betrachten. Für ein Kind ist es unbegreiflich, in ein Heim oder eine andere Familie abgeschoben worden zu sein, ohne dass die liebenden Eltern in ihrer Wahrnehmung etwas dagegen unternommen haben.
Einmal sprach mich eine Freundin aus Gera an, die herausgefunden hatte, dass ihre Eltern, eine Lehrerin und ein Offizier, sie adoptiert hatten. Sie hatte sogar ihren ursprünglichen Namen erfahren, aber bisher nicht den Mut aufgebracht, weitere Schritte zu unternehmen. Bei ihr bemerkte ich ebenfalls die häufig feststellbare Ambivalenz: Sie sehnte sich einerseits nach ihren leiblichen Eltern und hatte andererseits Angst vor der Begegnung, die mit vielerlei Enttäuschungen verbunden sein konnte. Den entsprechenden Telefoneintrag ausfindig zu machen war keine Schwierigkeit. Unter dieser Nummer meldete sich ein Mann, der sich als geschiedener Gatte der gesuchten Mutter erwies und damit als der leibliche Vater meiner Freundin. Er konnte seine Freude kaum fassen. Mit dieser Entdeckung hatte er offenbar nicht mehr gerechnet. Ihm fehlten die Worte.
Auch meiner Freundin standen die Tränen in den Augen, als sie erfuhr, dass ihr Vater sie sehen wollte. Von dem Mann erhielten wir dann sogar die aktuelle Telefonnummer der Mutter. Zu DDR -Zeiten war sie wegen Staatshetze in Haft genommen worden. In der Folge wurden ihr die beiden Töchter weggenommen, die danach auch noch voneinander getrennt und von unterschiedlichen Eltern adoptiert worden waren. Geprägt durch ihre Erfahrungen, begegnete die Frau mir am Telefon mit großem Misstrauen, dennoch ließ sie sich auf ein Treffen ein. Meine Freundin und ich verabredeten uns mit ihr und ihrer Schwester in einem Café in Gera. Ein solches erstes Wiedersehen nach allem, was in der langen Zeit des Getrenntseins geschehen ist, ist stets der heikelste Moment. Mutter und Tochter müssen sich ganz neu kennenlernen, sie müssen akzeptieren, dass sich die andere auf ihre eigene Weise weiterentwickelt hat. Die Vorstellungen in der Fantasie der Beteiligten haben in der Regel kaum noch etwas zu tun mit dem Menschen, dem sie sich nun gegenübersehen.
Dennoch gibt es für gewöhnlich eine Verbindung, die auch die Wechselfälle des Lebens überdauert, eine Art Herzensverwandtschaft, die sich spüren, wenngleich nicht rational erfassen lässt. Damals bei meiner Freundin durfte ich miterleben, wie sich Mutter und Tochter zaghaft an der Hand hielten und damit vorsichtig anerkannten, dass sie zusammengehörten. Dieser Anblick berührte mich sehr. Zugleich war bei dem Treffen im Café schon sehr bald erkennbar, wie stark die einstige politische Gefangene von ihrem Lebensleid gezeichnet war. Sie erweckte den Eindruck, als hätte sie dauerhaft jedes Vertrauen in ihre
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