Entrissen
fatale Kettenreaktion. Sie war nach allem, was ich von diversen Personen aus ihrem Umfeld hörte, nie gefügig. Sie eckte an und hielt mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg. Schon frühzeitig schwanger geworden und auf eigenen Beinen stehend, war sie wohl von ihrer Rolle als Alleinerziehender bisweilen überfordert. Da sie als Ungelernte bei den vorgeschriebenen Arbeitsstellen denkbar schlecht bezahlt wurde, musste sie materiell manchen Engpass überstehen, was möglicherweise der Grund für kleinere Ladendiebstähle war. Sie war nicht verheiratet und hatte uneheliche Kinder von verschiedenen Vätern. Damit entsprach sie weder der sozialistischen Norm noch dem durchaus verkrampften Moralempfinden der DDR -Gesellschaft. Sie kam immer wieder mit der Justiz und auch mit Vorgesetzten und Kollegen in Konflikt. In der Folge erhielt sie abwertende Einträge in ihre Kaderakte, in der die Personalabteilung jedes Betriebs schriftlich Aufsicht führte.
Mit Rücksicht auf uns Kinder weigerte sie sich, Arbeiten im Schichtbetrieb anzunehmen. In der DDR gab es jedoch nicht nur ein Recht auf Arbeit, sondern auch die Pflicht dazu. Offenkundig erschien Mama, sicher teilweise auch durch ihre Mutterpflichten bedingt, nicht so zuverlässig wie vorgeschrieben an ihrem Arbeitsplatz. Sie sah sich ins gesellschaftliche Abseits gedrängt, aus dem es für sie kein Entkommen gab.
Ich begann in jenen Tagen, meine Mama als Opfer anzuerkennen. Der Staat hatte ihr uns Kinder entzogen, weil sie selbst nicht den Anforderungen genügte, die dieser Staat im Sozialismus den Erziehungsberechtigten abverlangte.
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I rgendwann war ich es leid, mich zu verstecken und auf Dauer an meinem Selbstmitleid zu ersticken. Ich wollte aus dem Karussell der Selbstvorwürfe und Schuldgefühle aussteigen, somit endlich aus meiner selbstgeschaffenen Isolation ausbrechen. Und dafür sah ich nur einen Weg: Ich musste mein Leid teilen und mitteilen, daher suchte ich den Kontakt zu Menschen mit ähnlichen Erfahrungen. Ich wollte allem, was meine leibliche Mutter, mein Bruder und ich durchgemacht hatten, wenigstens nachträglich einen Sinn abringen. Ich wollte Menschen, die in einer ähnlichen Situation steckten, helfen. Daher dachte ich über die Möglichkeiten nach, wie ich die zerrissenen Lebensfäden, die die DDR hinterlassen hatte, wieder miteinander verknüpfen und dabei ausfindig machen konnte, was damals wirklich geschehen war.
Ich sah darin auch für mich die Chance: Ich konnte für andere Schwierigkeiten aus dem Weg räumen, mit denen ich selbst zu kämpfen gehabt hatte, und mich auf diese Weise aus meiner Lähmung befreien. Nicht zuletzt wollte ich diesem untergegangenen Staat wenigstens posthum den Erfolg streitig machen, Angehörige aus politischen Motiven einander dauerhaft entfremdet zu haben.
Als Ergebnis dieser Überlegungen schuf ich im November 2007 im Internet ein Portal, das noch immer existiert und allen Opfern familiärer Trennungen zu DDR -Zeiten offensteht, die auf der Suche nach vermissten Familienmitgliedern sind. Wie ein Schwarzes Brett soll es Suchende und Gesuchte zusammenführen. Die Seiten unter den Rubriken www.zwangsadoptierte-kinder.de sowie www.personen-suche-ddr.de stehen ohne Aufwand, Formalitäten und Zugangsbeschränkungen jedem offen. Dahinter steckt die Absicht, die Hemmschwelle für die Betroffenen, sich auf ihr Lebensthema einzulassen, so gering wie möglich zu halten.
Allerdings war es von Beginn an nicht meine Intention, mit dem behördlichen Verfahren der Familienzusammenführung zu konkurrieren. Im Gegenteil: Gleich auf den ersten Blick erkennbar, enthält die Homepage einige kurze, verständliche Hinweise, an welche offiziellen Anlaufstellen sich ehemals Adoptierte wenden können, wenn sie nach ihren leiblichen Eltern suchen, und welche Rechte sie dabei haben. Zusätzlich eröffnet die Internetplattform suchenden Eltern wie Kindern die Möglichkeit, ihre Anfragen, nach Regionen sortiert, öffentlich zu machen.
Wenn diese Aufrufe ausreichend große Verbreitung finden würden, so hoffte ich damals bei der Erstellung der Seite, könnte es mir in Einzelfällen gelingen, zu DDR -Zeiten getrennte Eltern und Kinder wieder zusammenzuführen. Eine vergleichbare Möglichkeit gab es zuvor nämlich nicht im Netz.
Begleitend zum Start des Projekts plazierte ich auf mehreren themenverwandten Internetseiten Querverweise, um möglichst viel Aufmerksamkeit auf das neue Portal zu lenken. Das Echo blieb nicht aus: Unmittelbar
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