Entrissen
zu hören: »Endlich kann ich mal darüber reden.« Wichtig war für sie die Erkenntnis, dass sie ihre Erfahrungen – zu DDR -Zeiten ein absolutes Tabuthema – mit anderen teilten.
Die Mütter hatten auch deshalb oft lange Zeit geschwiegen, weil sie sich mit dem Vorwurf plagten, bei der Fürsorge ihrer Kinder versagt zu haben. Der Gewissensdruck linderte sich erst dann, wenn sie, oft zum ersten Mal, erfuhren, dass sie ihr Los mit Hunderten anderer Mütter teilten. Mir wiederum half der Austausch mit den Frauen, die eine ähnliche Lebensgeschichte wie meine Mutter durchlitten hatten, um mehr Verständnis für Mamas damalige Zwangslage zu entwickeln. Ihnen wiederum gab mein ehrliches Interesse die Hoffnung, bei ihren eigenen Kindern ebenfalls auf Verständnis zu stoßen. So eröffnete das Internetportal im Nebeneffekt gesprächsbedürftigen Mitmenschen ein Forum zum Austausch.
Dennoch musste und muss ich mich bis heute hüten, die Schilderungen fremder Menschen zu sehr mit meinen eigenen Erinnerungen zu verknüpfen, will ich mich vor Überlastung schützen. Die Geschichten, die ich zu hören bekomme, bringen mich ohnehin bisweilen an den Rand meines Aufnahmevermögens. Was ich über Qualen und Drangsalierungen in den DDR -Gefängnissen erfahre, stellt das, was meine Mama lediglich angedeutet hat, oft noch in den Schatten. Einige ehemalige Häftlinge erzählen, wie sie zur Strafe in knietiefem, kaltem Wasser stehen mussten, in dem Ratten schwammen. Andere wurden in einen Käfig aus Holzstäben von der Größe einer Hundehütte gesperrt und waren stundenlanger Berieselung mit Wasser ausgesetzt. Frauen bekamen Medikamente verabreicht, deren Folgen sie nicht absehen konnten. In der Häftlingshierarchie rangierten politische Gefangene noch unterhalb der Schwerverbrecher. Die Aufseher betrachteten sie als Abschaum, nicht als Menschen.
Was sich jedoch bei allen Opfern der DDR -Justiz als schlimmste Erfahrung einbrennt, ist die zwangsweise Wegnahme ihrer Kinder. Wenn ich zu hören bekomme, wie brachial Kinder in manchen Fällen von ihren Eltern getrennt wurden, dann zerreißt es mir schier das Herz. Gerade als Mutter kann ich ihren Schmerz sehr genau nachempfinden. Eine Frau, mit der ich inzwischen eng befreundet bin, berichtete mir vor Jahren, wie ihre Tochter unter dem Vorwand einer kinderärztlichen Untersuchung regelrecht entführt worden war. Dem Mädchen wurde zur Erklärung das Märchen aufgetischt, dass seine Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen seien und es daher in die Obhut einer anderen Familie komme.
Auch gegenüber den Eltern scheuten die Handlanger des staatlich organisierten Kindesentzugs in Einzelfällen nicht vor dreisten Lügen zurück. Mehrere Eltern fanden erst viel später durch eigene Nachforschungen heraus, dass ihre neugeborenen Kinder gar nicht nach der Geburt gestorben sind, wie man ihnen im Krankenhaus kühl mitgeteilt hat. In Wirklichkeit sind sie ohne ihr Wissen anderen Familien als vermeintliche Waisenkinder zur Adoption übergeben worden. Sicher die perfideste Form, die gesetzlich vorgesehene Einwilligung der Eltern zur Aufgabe des Sorgerechts zu umgehen.
All diese rechtswidrigen Hintergründe finden in den offiziellen Akten zur Adoptionsvermittlung keine Erwähnung. Aus der blanken Unterschrift, mit der die Eltern in die Adoption ihrer Kinder einwilligten, ist nicht herauszulesen, welches Leid, welcher psychologische Druck, welche Ausweglosigkeit diesem Zugeständnis vorausgegangen sind. Selbst der Verweis auf »asoziale Lebensumstände« lässt keine eindeutigen Rückschlüsse auf die tatsächlichen Verhältnisse zu, denen die Kinder entstammen. Allzu oft hat die Ausgrenzung unbequemer Zeitgenossen eher ideologische Hintergründe. Das hindert die Betroffenen jedoch nicht daran, bis heute mit dem »asozial«-Stempel Scham und Schuldgefühle zu verbinden.
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W enn Schicksalsgenossen von mir ihre leiblichen Eltern suchen, erkenne ich, bei aller Unterschiedlichkeit der Lebenswege, stets einige vergleichbare, mir nur zu bekannte Muster: Sie fühlen sich wie entwurzelt, verspüren das Grundbedürfnis, nach den gekappten Wurzeln der eigenen Identität zu forschen – und gleichzeitig eine große Scheu davor. Selbstzweifel stehen den Betroffenen oft im Weg, immer neue Ausflüchte und besonders die Angst, auf belastende Wahrheiten zu stoßen. Die meisten einst Zwangsadoptierten spüren unbewusst, wie fremd sie sich in ihrer Haut fühlen. Manche geraten aus der Bahn,
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