Entscheide dich, sagt die Liebe
M ozart war in ihrem Kopf.
Dum-dong-dum-ping-pliii-didldidim …
Das Klavierkonzert in C, das an diesem Tag auf dem Programm stand. Im Rhythmus der Anfangstakte folgte Clara einer Traube von rucksackbepackten Touristen, ließ sich in ihrem Sog aus dem Bahnhofsgebäude spülen, hopste die Stufen hinunter und sah sich um.
Venedig. Die letzte Station ihrer Italientournee.
Bisher war alles gut gegangen, ach was, molto bene war es gegangen, grandios, spitzenmäßig, besser als sie es sich in ihren kühnsten Träumen hätte ausmalen können. Die Bologneser, die Römer, die Florentiner, die Neapolitaner, die Veroneser, sie hatten ihr zu Füßen gelegen und sie auf Händen getragen, sie hatten geklatscht, gejohlt, gepfiffen, sie nicht von der Bühne gelassen, bevor sie nicht mindestens drei Zugaben gespielt hatte. Würde sie auch das venezianische Publikum erobern, dem man nachsagte, schwierig zu sein? Verwöhnt, unterkühlt und ein bisschen hochnäsig. Wie eine Gräfin, die zu alt war, um Begeisterung zu empfinden, und zu vornehm, um mehr als ein Zucken ihrer Mundwinkel als Gefühlsausbruch zuzulassen.
Sie atmete tief durch. Die Luft schmeckte salziger als am Morgen in Verona. Ein bisschen modrig. Es roch nach feuchtem Mauerwerk und schimmeligem Holz. Der Himmel präsentierte sich in einem verwaschenen Blaugrau, in dem Wolkenfetzen schwammen, die sich am linken Rand ihres Gesichtsfelds zu kompakten Gebilden türmten. Doch genau in dem Moment, als ihr Blick über die Wolkentürme glitt, verschoben sie sich gegeneinander und gaben ein Bündel Sonnenstrahlen frei. Das Licht ließ das Wasser des Canal Grande aufleuchten wie einen Smaragd, und das Bild, das sich ihr bot, schien kontrastreicher zu werden. Als hätte jemand am Regler für die Tiefenschärfe gedreht.
Sie betrachtete die Fassaden der Häuser, die trotz ihrer Schlichtheit prachtvoll wirkten und trotz ihrer Pracht elegant. Und die eine hypnotische Wirkung auf die Neuankömmlinge auszuüben schienen, dass sie wie unter einem höheren Zwang Handys und Fotoapparate zückten und auf Auslöser drückten, als gelte es, einen Wettbewerb zu gewinnen. Auch Clara versuchte, die Schönheit der Szenerie einzufangen, über der ein Hauch von Melancholie waberte.
Auf einmal fühlte sie sich einsam: eine junge Pianistin, die acht Stunden täglich mit schwarz-weißen Tasten verbrachte und das Wort »Beziehung« nur vom Hörensagen kannte, ganz allein in der Stadt der Liebe und der Hochzeitsreisen! Sie seufzte. Zum Glück spukte immer noch die übermütige Musik in ihrem Kopf herum und vertrieb die traurigen Gespenster.
Padum-plum-ping-plum-pliii-didldidim …
Für Anfang April war es erstaunlich warm. Die schwere Luft legte sich wie ein feuchtes Tuch über ihre Haut und lockte Schweißtropfen aus den Poren. Clara schälte sich aus ihrer Jacke, verstaute sie im Koffer und schlenderte zur Haltestelle der Linienboote. Dort reihte sie sich in die Schlange ein, die vor dem Fahrkartenschalter stand. Das Pärchen vor ihr schien an den Lippen zusammengewachsen zu sein. Sie staunte, dass man sich so lange küssen konnte, ohne Luft zu holen oder krebsrot anzulaufen und andere Anzeichen von Erstickung zu zeigen. Sie musste sich zwingen, nicht auf die Uhr zu sehen. Ob die beiden für einen Rekord übten? Immer wenn die Schlange kürzer wurde, rückten sie um einen Schritt vor, ohne ihren Kuss zu unterbrechen. Erst als der Ticketverkäufer sie ansprach, lösten sie sich voneinander, widerwillig fast, und es gab Clara einen Stich, als sie den liebevollen Blick sah, den der junge Mann seiner Angebeteten zuwarf, während sie die Fahrscheine kaufte.
Sie musste an ihren ersten Kuss denken. Eins, zwei hatte Ioannis ihr die Zunge in den Mund gesteckt und ihr seinen Knoblauchatem eingeblasen. Seither rangierte Tzatziki auf Platz eins ihrer Liste der ekelerregenden Speisen. Sie schüttelte sich. Und männliche Studienkollegen konnten ihr seit dem Zungendesaster auch gestohlen bleiben, mochten sie noch so toll singen, Saxophon spielen oder komponieren.
Manchmal fragte sie sich, ob sie womöglich gar nicht auf Männer stand. Oder hatte sie bloß noch nicht den richtigen gefunden? Wie sollte ich auch?, dachte sie. Ich habe ja keine Zeit für Dates. Sie lächelte den Ticketverkäufer an, verlangte eine Einzelfahrkarte und bezahlte. Dann warf sie einen letzten Blick auf das verliebte Paar, wandte sich ab und beobachtete das Anlegemanöver des Vaporettos.
Beim Einsteigen rempelte sie ein Mann
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