Entscheide dich, sagt die Liebe
dem sich zwei höhere Töne gesellten. Aqua alta bedeutete das, Hochwasser, und es hatte nicht nur den tiefstgelegenen Punkt Venedigs – den Markusplatz – überschwemmt, sondern schon die halbe Stadt. Schuld waren die anhaltenden Regenfälle, mit denen der November Einzug gehalten hatte, und der Schirokko, dessen Böen das Wasser aufpeitschten und in die Lagune drückten.
Clara zog die Kapuze ihres Parkas tiefer ins Gesicht und balancierte über provisorische Stege durch den Stadtteil San Polo. Zwei Mädchen in gelben Regenjacken tobten durchs kniehohe Wasser, dass es nur so spritzte. Eine ältere Frau hatte sich in einen Hauseingang geflüchtet. Aus dem Ausschnitt ihres Kamelhaarmantels lugte der Kopf eines Yorkshire-Terriers hervor, der denselben beleidigten Gesichtsausdruck zur Schau stellte wie seine Besitzerin.
Die Casa del Jazz lag in einer verschwiegenen calle in der Nähe des Campo San Polo und galt als absoluter Geheimtipp. Als Clara die Tür aufdrückte, stand Vincenzo, der Besitzer des Jazzcafés, hinter dem Tresen und hantierte an einer überdimensionalen Espressomaschine. »Ciao, carissima«, krächzte er gegen das Fauchen und Zischen an. Dann winkte er dem Kellner Andrea, der gleich darauf in der Küche verschwand und wieselflink mit einem Teller zurückkam, auf dem zwei eingerollte Pfannkuchen lagen. Andrea stellte ihn wortlos auf eines der Tischchen und bedeutete Clara, sich zu setzen.
Sie schnupperte. »Mmh, das duftet herrlich. Was ist das?«
»Crespelle. Mit Blattspinat und Ricotta gefüllt und überbacken. Und mit den besten Grüßen von der Chefin.« Er zwinkerte.
Clara wusste, was das bedeutete. Vincenzos Mutter Anna, die für die einfachen, aber köstlichen Gerichte verantwortlich war, die in der Casa del Jazz serviert wurden und wöchentlich wechselten, würde bald ihren Rundgang antreten. Dabei würde sie, ihren immensen Busen wie eine Waffe vorgestreckt, kontrollieren, ob Clara alles aufgegessen hatte. Die rüstige Fünfundsiebzigjährige hatte es sich nämlich zum Ziel gesetzt, Clara aufzupäppeln, seit sie sie zum ersten Mal gesehen und für zu dünn befunden hatte. Im Juni war das gewesen. Damals hatte Clara sich für die Stelle als Barpianistin beworben. Seither spielte sie dreimal wöchentlich Jazzstandards, Filmmusik und alte Schlager auf demselben Klavier, auf dem angeblich schon Oscar Peterson, Lennie Tristano und Keith Jarrett improvisiert hatten – zumindest behauptete Vincenzo das. Bevor sie sich ans Piano setzen durfte, wartete jedoch immer ein mit viel Liebe gekochtes Abendessen auf sie.
Schon nach dem ersten Bissen der überbackenen Pfannkuchen breitete sich Wärme in ihrem Magen aus, schwappte wellenförmig durch ihren ganzen Körper und verwandelte sich in ein Gefühl von Dankbarkeit Vincenzo und seiner Mutter gegenüber. Nicht nur für das Essen und den Job war sie dankbar, sondern in erster Linie für die Herzenswärme, mit der die beiden sie aufgenommen hatten, als gehörte sie zur Familie.
Während sie genüsslich weiteraß, ließ sie die Monate seit dem Tod ihres Vaters Revue passieren und musste zugeben, dass sie ein bisschen stolz auf sich war. Sie hatte ihr Leben vollkommen umgekrempelt. Hatte den Clara-Haskil-Wettbewerb abgesagt, sich deswegen mit Dillinger zerstritten, der ihr stundenlange Vorträge über gescheiterte Künstlerlaufbahnen und eine verpatzte Zukunft gehalten hatte. Sie übte nicht mehr acht bis neun Stunden täglich, hetzte ihre Finger nicht mehr wie unermüdliche Soldaten über das schwarz-weiße Schlachtfeld, bis die Muskeln übersäuerten, die Sehnen in ihren Scheiden heiß liefen und sich auf den Fingerkuppen Hornhaut bildete. Drei Stunden Spielzeit genügten ihr vollkommen, dafür war sie hochkonzentriert und mit Spaß bei der Sache.
Anstatt hoch gesteckten Karriereplänen hinterherzuhecheln, wie ihr Vater es für sie vorgesehen hatte, versuchte sie zum ersten Mal in ihrem Leben, ihre eigenen Träume zu verwirklichen! Ihren Lebensunterhalt verdiente sie mit privaten Klavierstunden und dem Spiel in der Casa del Jazz. Und in ihrer Freizeit arbeitete sie gemeinsam mit Simon Engel, einem österreichischen Schriftsteller, an ihrem Herzensprojekt: der großen Leo-Prachensky-Biografie. Es sollte keine Abrechnung werden, sondern eine um Wahrheit bemühte Annäherung, die den dunklen Flecken seiner Vergangenheit ebenso viel Platz einräumte wie seinen musikalischen Verdiensten. Die die menschlichen Schwächen nicht unterschlug und den
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