Enwor 1 - Der wandernde Wald
gleiche Weise.
Der Sims, auf dem sie standen, war nur wenig breiter als zwei aneinandergelegte Hände. Der Wind traf sie hier oben ungeschützt und mit voller Wucht. Skar strauchelte, hielt sich hastig an der rauhen Außenseite der hölzernen Burg fest und blickte schaudernd in die Tiefe. Sie waren vielleicht dreißig Meter über dem Boden, aber es kam ihm höher vor, viel höher.
Er drehte sich vorsichtig um, suchte mit den Füßen nach festem Halt und wollte etwas sagen, aber Bernec legte hastig den Zeigefinger über den Mund und deutete mit einem warnenden Blick auf die schmale Fensteröffnung über seinem Kopf. Rötlicher Fackelschein, der im allmählich stärker werdenden Licht der aufgehenden Sonne kaum noch sichtbar war, drang aus dem Inneren der Festung, und als Skar einen Moment lang lauschte, glaubte er leises Stimmengemurmel zu hören. »Der Augenblick ist günstig«, flüsterte Bernec. »Die Wachablösung steht kurz bevor. Die Wachen dort drinnen haben eine lange Nacht hinter sich und müssen todmüde sein. Mit etwas Glück können wir sie überrumpeln.«
»Wann kommt die Ablösung?« fragte Skar im gleichen Ton.
»Bald«, antwortete Bernec nach einem kurzen Blick zum Himmel. »Aber wir haben Zeit genug. Eine Viertelstunde, vielleicht. Das muß reichen.«
Skar preßte sich eng an die Wand, hob vorsichtig die Arme über den Kopf und tastete nach dem Fenstersims. Sein Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. Wenn in dem Raum auf der anderen Seite des Fensters Wachen waren und wenn sie zufällig zum Fenster sahen, während er hindurchstieg, dann war er für Sekunden hilflos. Er verscheuchte den Gedanken mit einem ärgerlichen Achselzucken, klammerte die Finger um den Sims und zog sich mit einem kraftvollen Ruck hinauf.
Der Raum dahinter war dunkel, nur von einer einzigen, bereits halb heruntergebrannten Fackel erleuchtet, und leer. Skar atmete lautlos auf, ließ sich nach vorne über die Brüstung kippen und kam mit einer unhörbaren Rolle wieder auf die Beine. Er blieb eine halbe Sekunde lang lauschend stehen, huschte dann auf Zehenspitzen durch den Raum und preßte sich dicht neben der halb offenstehenden Tür gegen die Wand. Hinter ihm stieg Del durch das Fenster, sah sich blitzschnell nach rechts und links um und winkte Coar und Bernec, ihnen zu folgen.
Skar ließ sich vorsichtig auf Hände und Knie sinken und versuchte, zwischen Türblatt und —rahmen hindurch in den angrenzenden Raum zu sehen. Er war nur wenig größer als das Zimmer, in dem sie waren, aber besser beleuchtet, und an der gegenüberliegenden Wand gab es gleich zwei Ausgänge, die mit schweren, hölzernen Türen verschlossen waren. Skar konnte drei Wächter erkennen, die an einem niedrigen, einfachen Tisch unweit der Tür saßen und leise miteinander redeten. Aber er konnte nur einen kleinen Teil des Raumes überblicken. Vielleicht hielten sich noch mehr Wachen darin auf. Seshar schien wirklich mit einem Angriff auf Ipcearn zu rechnen.
Er kroch zurück, richtete sich lautlos auf und gab Del einen Wink. Der junge Satai huschte zur anderen Seite der Tür, nickte stumm, hob erst drei, dann zwei und schließlich nur noch einen Finger. Als er die Faust ein viertes Mal und geballt in die Höhe stieß, stürmten sie los.
Die Posten hatten nicht einmal mehr Zeit, einen Hilferuf auszustoßen. Die beiden Satai stürmten nebeneinander durch die Tür und brachen wie ein Wirbelsturm aus heiterem Himmel über sie herein. Skar riß den der Tür am nächsten sitzenden Mann in die Höhe und schmetterte ihm die Faust ins Gesicht. Del warf sich gegen den Tisch, stieß ihn um und begrub die beiden verbliebenen Soldaten kurzerhand unter der schweren, hölzernen Platte. Der Kampf war vorüber, bevor er überhaupt richtig begonnen hatte.
»In Ordnung«, sagte Del laut. »Ihr könnt kommen.« Coar und Bernec traten hinter ihnen in die Wachstube. Bernec nickte anerkennend, als er die reglos daliegenden Soldaten sah. »Gute Arbeit«, lobte er. »Werden sie lange genug bewußtlos bleiben?«
»Wir fesseln sie sicherheitshalber«, bestimmte Skar. »Sie werden sowieso bald gefunden.« Er bückte sich, stemmte die Tischplatte hoch und zog einen der bewegungslosen Männer an den Armen über den Boden. »Helft mit, sie auszuziehen«, sagte er.
»Ausziehen?« echote Bernec verwirrt. »Aber wozu?«
»Weil wir ihre Uniformen brauchen«, murrte Del ungeduldig. »Eine bessere Tarnung können wir uns gar nicht wünschen.«
»Aber es sind nur drei«, gab
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