Enwor 1 - Der wandernde Wald
Bernec zu bedenken.
Del schnaubte ungeduldig. »Das sehen wir selbst«, erklärte er spitz. »Dann werden Skar, du und ich eben Coar durch die Festung eskortieren. Kannst du dich jetzt wenigstens allein umziehen, oder muß ich das auch noch machen, wenn ich schon für dich denken soll?«
»Del!« sagte Skar warnend.
»Das klappt nie«, murmelte Bernec, ohne auf Dels beleidigenden Tonfall zu reagieren. »Ich bin hier viel zu bekannt. Und Coar auch.«
»Halt mich fest, Skar!« flehte Del in gespielter Verzweiflung. »Sonst erkennt ihn gleich nicht mal seine eigene Mutter wieder!« Er knurrte, ballte die Fäuste und trat drohend auf Bernec zu. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte die Situation vielleicht komisch gewirkt, aber Bernec schien sich mit einemmal nicht mehr so sicher zu sein, daß Del wirklich nur herumflachste. Er wich einen Schritt zurück, hob hastig die Hände und begann, seinen Rock aufzuknöpfen.
»Hört mit dem Quatsch auf«, sagte Skar rauh. »Für so etwas haben wir keine Zeit. Coar — geh zur Tür und paß auf.«
Coar gehorchte. Sie entkleideten die Posten bis auf die Unterwäsche, fesselten und knebelten sie und zogen sich in aller Eile um. Skar und Del streiften die einfachen, braunen Gewänder kurzerhand über ihre Harnische und verbargen ihre Schwerter unter den Umhängen, so gut es ging. Kein Bewohner Ipcearns würde sich durch die Verkleidung ernsthaft täuschen lassen; aber vielleicht verschaffte sie ihnen einige wertvolle Sekunden.
»Wohin führen diese Türen?« fragte Skar, als er fertig umgezogen war.
Bernec zuckte unglücklich die Achseln. »So genau kenne ich mich hier nicht aus«, murmelte er. »Ich war schon oft hier, aber die Wege der Wächter kenne ich nicht. Wir müssen versuchen, einen der Hauptgänge zu erreichen. Dort fallen wir auch weniger auf. Selbst um diese Zeit sind dort ständig Menschen.«
»Gut«, sagte Skar. »Dann gehen wir.« Er öffnete vorsichtig die rechte der beiden Türen, spähte auf den dahinterliegenden Gang hinaus. Er war dunkel und schmal und erinnerte ihn für einen Moment an die finsteren Stollen tief unter der Nonakesh. Aus dem Inneren der Festung wehten ihm leise Geräusche entgegen; einzeln nicht unterscheidbar, aber in ihrer Gesamtheit fast so etwas wie die Lebensgeräusche eines großen, geduldigen Tieres bildend.
Er öffnete die Tür weiter und trat an der Spitze ihrer kleinen Gruppe auf den Gang hinaus. Sie gingen eine kurze Treppe hinauf, durchquerten einen zweiten, menschenleeren Raum und standen schließlich vor einem nur mit einem schweren, dunkelroten Vorhang verschlossenen Durchgang. Dahinter lag, wie Skar mit einem raschen Blick feststellte, einer der Säulengänge, auf dem Mergell ihn bei seinem ersten Besuch auf Ipcearn zu den Gemächern des Königs geleitet hatte.
»Keinen Laut mehr jetzt«, sagte er warnend, bevor sie auf den Gang hinaustraten. »Bernec — du gehst voraus, dann Coar. Del und ich folgen.«
»Und was ist, wenn wir angesprochen oder aufgehalten werden?« fragte Bernec nervös.
Skar lächelte. »Frag mich das, wenn es soweit ist.« Er schlug den Vorhang beiseite, trat aus der Tür und wartete ungeduldig, bis Bernec und Coar an ihm vorbeigegangen waren. Natürlich hatte Bernec mit seinen Befürchtungen durchaus recht — die verstärkten Wachen bewiesen, daß man in Ipcearn mit einem Angriff rechnete und auf der Hut war, und das Volk von Cearn war einfach nicht groß genug, als daß nicht die meisten Bewohner der Festung sowohl ihn als auch Coar kennen mußten. Aber sie waren schon zu weit gegangen, um jetzt noch zurück zu können. Bisher hatten sie Glück gehabt, und wenn ihnen das gleiche Glück noch wenige Augenblicke treu blieb, konnten sie es schaffen.
Und dann? wisperte die dunkle Stimme in ihm. Was wirst du dann tun? Wirst du Seshar einen Dolch ins Herz rammen? Oder wirst du nur zusehen, wie Bernec
es tut? Sie werden euch lynchen, so oder so, und dann werden die Bewohner von Went Ipcearn stürmen. Ganz egal, was du tust, es ist sinnlos.
Bernec schritt rasch vor ihnen aus. Von Zeit zu Zeit begegneten sie Bediensteten oder uniformierten Soldaten, aber es waren weniger, als er befürchtet hatte.
Ipcearn befand sich in Alarmstimmung, aber die Männer schienen genug mit sich selbst und ihren Gedanken zu tun zu haben, um auf die drei abgelösten Wachen und die Frau in dem unauffälligen grünen Mantel zu achten. Sie gingen bis zum Ende des Säulenganges, bogen nach rechts ab und stiegen über eine schmale
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