Enwor 1 - Der wandernde Wald
einemWerk zu arbeiten, dessen Erfüllung weder sie noch ihre Kinder oder Kindeskinder jemals erleben würden.
»Du möchtest also, daß ich Mergells Ansinnen abschlage«, sagte er.
Seshar nickte. »Ja. Vielleicht hättest du auch ohne meine Bitte so entschieden, doch ich will, daß du weißt, was von deiner Entscheidung abhängt. Bernec und seine Anhänger glauben, nicht mehr länger warten zu können. Vielleicht haben sie recht, Skar. Vielleicht können sie Urcöun erreichen, und vielleicht würde es ihnen gelingen, es zurückzuerobern. Vielleicht.«
»Ihr wißt es nicht?« fragte Skar.
Erneut blickte Seshar lange und schweigend aus dem Fenster, ehe er antwortete, und erneut hatte Skar das Gefühl, daß seine Worte weniger Erklärung, sondern vielmehr Bitte waren. »Ihr habt die Wüste kennengelernt«, sagte er. »Ihr wißt, wie grausam sie ist. Wir haben Patrouillen nach Westen geschickt, immer und immer wieder, doch keine von ihnen hat jemals Urc erreicht.«
Seshar zögerte einen Moment, und Skar hob seinen Becher und trank mit langsamen, ruhigen Schlucken. Er war sich der Tatsache bewußt, daß Seshar ihm viel anvertraute, vielleicht mehr als gut war. Und trotzdem spürte er, daß er ihm noch nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte.
»Vielleicht würden sie Urc finden und den Kampf gegen die Invasoren gewinnen«, fuhr Seshar nach einer endlos anmutenden Pause fort. »Aber dieses Vielleicht ist mir nicht sicher genug, Skar. Unser Volk hat jahrtausendelang gehofft und gekämpft, zu lange, um alles aufs Spiel zu setzen. Vielleicht würden sie Urcöun finden, aber vielleicht auch nicht. Es wird von Generation zu Generation schwerer, unseren Kindern neue Hoffnung zu geben. Wenn Bernec sein Vorhaben verwirklichen könnte und wenn er dann versagen würde, würde es mehr als ein paar hundert Menschenleben kosten, Skar. Es würde das Ende unserer Hoffnungen bedeuten. Das Ende Cearns.«
»Und welche Rolle spielen Del und ich dabei?« fragte Skar.
Seshar lächelte traurig. »Eine größere, als uns beiden recht sein kann, Skar. Dirobliegt es, den Menschen Cearns zu sagen, daß du nicht der lang erwartete Befreier bist. Ich kann dir nicht dabei helfen.«
Stille legte sich über den Raum; eine Stille, die etwas ungemein Bedrückendes mit sich zu bringen schien. Das also war das Geheimnis Cearns, beinahe enttäuschend auf der einen Seite, aber auch beklemmend und furchteinflößend. Ohne daß er irgend etwas Besonderes getan oder auch nur etwas davon gemerkt hätte, war ihm die Verantwortung für das Schicksal eines ganzen Volkes zugefallen. Seshar hatte recht — er konnte ihm nicht helfen, so gerne er es gewollt hätte. Er und Del waren von einem Tag auf den anderen zu Göttern geworden. Aber es war nicht leicht, ein Gott zu sein.
Er nippte erneut an seinem Wein und drehte den Becher unschlüssig in den Händen, froh, etwas zu haben, an dem er sich festhalten konnte. »Wenn Bernec wirklich der führende Mann der… >Ungeduldigen< ist«, sagte er betont, »warum bittet Ihr ihn dann nicht zu Euch und erklärt ihm alles. Er ist vielleicht jung und aufbrausend, aber ich glaube, daß er vernünftig genug ist, Euch zuzustimmen.« »Sicher«, sagte Seshar. »Doch es wäre sinnlos, Skar. Ein neuer Bernec würde heranwachsen, und die Probleme wären die gleichen. Auch ich war einst jung, auch wenn es schon lange her ist, und ich kann gut verstehen, was in Bernec und seinen Freunden vorgeht. Auch ich habe einmal zu denen gehört, die nicht länger warten wollten, und wäre ich nicht zufällig als Sohn eines Königs aufgewachsen, wäre ich vielleicht selbst zu einem zornigen jungen Mann wie Bernec geworden. Vielleicht«, fuhr er mit veränderter Betonung fort, »ist es ein Privileg der Jugend, ungeduldig zu sein, und vielleicht ist es an jedem anderen Ort wichtig und sogar notwendig, daß die Jugend sich gegen Bestehendes auflehnt. Aber so, wie die übrige Welt von der Veränderung lebt, so lebt Cearn von der Ruhe. Verändere dieses System, Skar, und du vernichtest es.«
Am nächsten Morgen wurde er noch vor Sonnenaufgang von einem Diener geweckt. Er war nicht mehr lange bei Seshar geblieben. Der scharfe Ritt hatte ihn mehr ermüdet, als er anfangs geglaubt hatte, und nachdem die Spannung nach und nach von ihm abgefallen war, war er rasch müde geworden. Seshar hatte ihm angeboten, zusammen mit ihm zu Abend zu essen, doch Skar hatte abgelehnt und statt dessen darum gebeten, auf sein Zimmer geführt zu werden. Seshar mußte
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