Enwor 4 - Der steinerne Wolf
begegnet war. Er begriff mit einem Mal, daß er nicht der große starke Mann war, für den er sich selbst immer gehalten hatte; daß er sein Leben lang eigentlich nichts anderes getan hatte als das, was er Gowenna vorgeworfen hatte: sich zu verstecken; sich hinter der Maske des Supermanns zu verkriechen.
Und was ist das jetzt?
dachte er mit einem Zynismus, der ihn erschreckte. Selbstmitleid?
Vielleicht. Vielleicht war alles viel einfacher, und sein Geist war schlicht und einfach unter der ständigen Belastung zusammengebrochen. Vielleicht wurde er langsam verrückt. Und vielleicht...
Ja, dachte er, was, wenn alles, was mich antrieb, wenn der brennende Haß in meinem Inneren in Wirklichkeit nichts anderes als verletzter Stolz war? Wenn ich es nur nicht ertragen habe, gede-mütigt worden zu sein, noch dazu von einer Frau?
Wie hatte Herger ihn — (spöttisch?) — genannt?
Mann aus Stahl?
Aber was empfindet ein Mann aus Stahl, wenn er zerbrochen wird?
D er Wind frischte merklich auf, als sie weiterritten. Sie hatten sich vom Ufer etwas entfernt, um der eisigen Kälte zu entgehen, ehe sie sich nach Westen wandten und ihren Weg fortsetzten, aber die Temperaturen fielen trotzdem weiter. Obwohl die Sonne rasch am Horizont emporkletterte und sich keine einzige Wolke am Himmel zeigte, wurde es kälter, und der Wind schlug ihnen wie mit eisigen Krallen in die Gesichter. Skar sah sich schon nach kurzem gezwungen, abzusitzen und seinen Mantel wieder überzustreifen, doch nicht einmal das schwere, gefütterte Kleidungsstück vermochte den eisigen Biß des Windes abzuhalten. Zu dem Hunger, der in seinen Eingeweiden wühlte, gesellte sich nun auch noch Kälte, als hätte sich das Schicksal im letzten Moment doch noch entschlossen, mit aller ihm zur Verfügung stehenden Macht an seinen Kräften zu zehren.
Gegen Mittag kam Nebel auf; dünne, treibende Schwaden zuerst, die wie tastende Finger vom Fluß heraufkrochen und um die Fesseln der Pferde spielten, später schwere, an Rauch erinnernde Wolken, die ihnen die Sicht nahmen und einen fremdartigen Geruch mit sich brachten — nicht den Geruch von Nebel, sondern etwas Fremdes, das Skar, obwohl er es nicht einordnen konnte, an Worte wie Gefahr und Bedrohung erinnerte.
Er wandte sich halb im Sattel um und sah prüfend zu Herger hinüber. Sie ritten nebeneinander, aber in großem Abstand, wie, um den Bruch zwischen ihnen nun auch räumlich Sichtbarwerden zu lassen. Sie hatten das Gespräch nicht fortgesetzt, aber die Kluf, die zwischen ihnen war, war durch die wenigen Worte deutlich geworden — eine Kluft, die weniger auf Feindschaft als vielmehr auf der Tatsache beruhte, daß sie einander einfach zu fremd waren. Herger hatte ihm das Leben gerettet und sein eigenes dabei riskiert, und es verging kein Tag, an dem er sich diesen Umstand nicht mindestens einmal ins Gedächtnis rief, aber es gab trotzdem kaum Gemeinsames zwischen ihnen. Die Gefahr, der sie beide ausgesetzt waren, hielt sie zusammen, doch Skar hatte zu viele solcher Bündnisse erlebt, um nicht zu wissen, wie wenig dauerhaft sie waren. Sie ritten zusammen, aber sie hatten nicht den gleichen Weg.
Herger schien seinen Blick zu spüren. Er sah auf, rang sich ein gequältes Lächeln ab und starrte dann wieder geradeaus, als gäbe es hinter den schweren Nebelwolken vor ihnen etwas ungemein Wichtiges zu entdecken. Jetzt, als Skar ihn im hellen Sonnenlicht sah, fiel ihm auf, wie blaß Herger war. Sein Haar hing in Strähnen herab, und sein Gesicht war grau. Seine linke Hand hatte sich um die Zügel gekrampft, aber die Rechte lag in einer Geste, die wie zufällig wirkte und es gewiß nicht war, auf dem Schwertgriff.
Wie immer, wenn Skar über den Hehler — oder was immer er sein mochte — nachdachte, überkam ihn eine Mischung aus Unsicherheit und Mißtrauen. Er wußte einfach nicht, was er von Herger halten sollte. Noch nie hatte ihn seine Menschenkenntnis so im Stich gelassen wie jetzt.
Aber vielleicht war er auch einfach nur zu mißtrauisch. Wenn man immer wieder betrogen und hintergangen wurde, dann fing man an, allen zu mißtrauen. Auch denen, die es vielleicht ehrlich meinten.
Herger stieß einen überraschten Laut aus und deutete nach oben. Skar fuhr aus seinen Überlegungen hoch, legte den Kopf in den Nacken und beschattete die Augen mit der Hand, um gegen das grelle Licht der Sonne etwas erkennen zu können.
»Vögel«, sagte Herger laut. »Das sind Vögel. Geier vermutlich.«
Skar nickte. Die Tiere
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