Enwor 9 - Das vergessene Heer
trägst. Aber er kann dich auch töten.«
»Wenn du es willst«, vermutete Skar.
»Nicht, so lange du nicht versuchst, den Turm zu verlassen.
Tätest du es, so würde sich seine Wirkung ins Gegenteil verkehren, und du stirbst binnen weniger Stunden.« Er breitete die Arme aus. »Du siehst, es besteht kein Grund für mich, dich zu töten. Nicht, solange du hier bist. Und später wird es keinen Grund mehr für dich geben, uns zu bekämpfen.«
Er stand auf und wandte sich zur Tür, blieb aber noch einmal stehen, ehe er das Zimmer verließ. »Willst du das Mädchen sehen?«
Kiina? Natürlich wollte er sie sehen. Er hatte sich nach nichts so sehr gesehnt wie danach, Kiina noch einmal wiederzusehen, in den Momenten, in denen er geglaubt hatte, sterben zu müssen. Trotzdem zögerte er.
»Wenn sie… wenn sie wieder sie selbst ist«, sagte er. »Sonst nicht. Ich habe keine Lust, mit einer Puppe zu sprechen.«
»Dann wird Titch dich zu ihr bringen«, sagte Ennart. »Folge mir.«
K iinas Quartier lag auf dem gleichen Korridor wie das Skars, aber an seinem entgegengesetzten Ende, und zwischen ihm und Skars Zimmer befanden sich nicht weniger als drei massive Wände aus Metall, die zwar lautlos auseinanderglitten, wenn Ennart sich ihnen näherte, in Skar aber jeden Gedanken an einen gewaltsamen Ausbruchsversuch zunichte machten. Sie waren weiter allein. Vorhin, als er aus dem Fenster geblickt hatte, hatte er gesehen, daß der Turm vor Leben schier überquoll; auf dem rechteckigen Hof bewegten sich Hunderte von Menschen und Quorrl und Tieren. Aber hier oben herrschte eine gespenstische Stille. Es verwunderte ihn ein wenig, daß ein Mann wie Ennart keine Leibwache hatte, bis er sich ins Gedächtnis zurückrief, daß der Ssirhaa nicht nur mächtig, sondern auch ungeheuer
stark
war. Und augenscheinlich so gut wie unverletzlich. Die Wunde, die Skar selbst ihm am vergangenen Abend beigebracht hatte, war nicht nur geheilt, sondern so spurlos verschwunden, als hätte es sie niemals gegeben.
Kiina schlief, als sie das Zimmer betraten, das so groß und hell war wie das Skars, aber nicht so leer. Neben Kiinas Bett stand eine verwirrende Anordnung sonderbarer Gerätschaften und Dinge, deren bloßer Anblick Skar einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ; gefährlich aussehende Dinge, von deren Seiten sich dünne gerippte Schläuche wie Schlangen aus Metall unter Kiinas Decke wanden. Einige endeten in dünnen Nadeln, die tief in ihr Fleisch gestochen worden waren.
Das Mädchen war nicht allein. Ein schlanker, dunkelhaariger Mann stand halb über sie gebeugt da, als sie eintraten. Die Tür hatte sich lautlos geöffnet, aber er schien ihr Eintreten zu spüren, denn er drehte sich mit einem Ruck um.
Es war Ian. Auf seinem Gesicht spiegelten sich Ehrfurcht beim Anblick des Ssirhaa, aber auch Schrecken und dann purer Haß, als er Skar erkannte. Trotzdem sagte er kein Wort, sondern trat nur mit einem demütigen Senken des Hauptes zurück und machte Ennart Platz.
»Wie geht es ihr?« fragte der Ssirhaa, während Skar rasch auf die andere Seite der schmalen Liege eilte und neben ihr nieder-kniete. Er hörte Ians Antwort nicht, sondern starrte nur Kiina an. Ihr Anblick war ein Schock für ihn. Er hatte gewußt, daß sie krank war, aber jetzt sah sie aus wie eine Tote. Ihr Gesicht war grau und von Geschwüren und kleinen nässenden Wunden entstellt, die Lippen gerissen und voller Eiter. Mehr als alles andere erinnerte ihr Anblick ihn an den der sterbenden
Margoi.
Er streckte die Hand nach ihr aus, wagte es aber nicht, sie zu berühren. Er hatte Angst, sie aufzuwecken.
»Sie wird leben.«
Es dauerte einen Moment, bis Skar registrierte, daß Ians Worte nicht mehr dem Ssirhaa galten, sondern ihm. Mit einem Ruck sah er auf und starrte den Zauberpriester an. Ians Augen flammten noch immer vor Zorn, aber Skar spürte auch, daß er die Wahrheit sagte. Er würde es nicht wagen, ihn im Beisein Ennarts zu belügen.
»So?« fragte er bitter. Er machte eine Handbewegung auf Kiinas zerstörtes Gesicht und das Gewirr aus metallenen Schläuchen und Nadeln.
»Nicht so.« Ian schüttelte den Kopf und machte eine flatternde Handbewegung auf die Ansammlung erschreckender Geräte und Apparaturen neben Kiinas Lager. »Das alles ist nötig, um ihr Leben zu retten. Und es wird auch nötig sein, um
dein
Leben zu retten.« Er wiederholte seine unwillige Geste, als Skar den linken Arm mit dem blitzenden Silberband hob.
»Das ist nur ein Provisorium«,
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