Enwor 9 - Das vergessene Heer
Krieger, der die Kampfesweihe empfangen hat, darf das Land seiner Geburt wieder betreten. Das war immer so, und es wird immer so sein.«
»Aber das ist doch verrückt!« protestierte Kiina. »Das ist doch völliger Wahnsinn!«
»Wieso?« fragte Titch ruhig. »Ist es vernünftiger, Männer in ihre Heimat zurückzulassen, die das Töten gelernt haben?«
Sie waren nicht die ersten!
dachte Skar verblüfft. Anders als Kiina hatte er von dem furchtbaren Todesbefehl des Quorrl-Hee-res gewußt, fast vom ersten Tag an, aber er hatte angenommen, es wäre eine Ausnahme, dieser Befehl wäre — warum auch immer
- zum ersten Mal erteilt worden. Was Titch jetzt erzählte, überraschte auch ihn.
»Dann gibt es keine Krieger bei euch?« fragte Kiina, die offenbar schneller als Skar begriff, was Titchs Worte wirklich bedeuteten.
»Keine, die gekämpft hätten«, bestätigte Titch. »Und es ist gut so.«
Skar starrte den Quorrl an. Was Titch erzählte, war nicht nur eine Überraschung. Es stellte das ganze Bild in Frage, das Skar
- und nebenbei jeder einzelne Mensch auf Enwor — von den Quorrl hatte. Quorrl, das bedeutete Kampf, Gewalt, Haß und Angst; ein Volk von furchteinflößenden Ungeheuern, bei denen selbst die Kinder schon Kämpfen und Töten lernten, ein Volk von reißenden Bestien, die wie Tiere lebten und handelten und deren bloßer Name Schrecken und Panik verbreitete.
Aber vielleicht stimmte dieses Bild nicht, dachte er. Vielleicht war es nur das, was die Menschen außerhalb von Cant glaubten, und vielleicht sogar, weil sie es glauben
sollten.
Er begriff plötzlich, daß Titch Kiina und ihm mehr als eine bloße Information gegeben hatte. Er hatte ihnen ein Geheimnis verraten, vielleicht das größte und bestgehütete Geheimnis seines Volkes.
»Aber einige sind zurückgekommen«, murmelte er, nur, um das quälend werdende Schweigen zu durchbrechen. »Du bist nicht der einzige, der seinen Schwur gebrochen hat.«
»Das habe ich nicht«, fuhr ihn Titch an. »Du hast mich gezwungen, es —«
»Das war kein Vorwurf«, unterbrach ihn Skar. »Im Gegenteil, Titch. Begreifst du denn nicht, daß du nichts Falsches getan hast? Du bist nicht der einzige, der die Sinnlosigkeit dieses Befehles eingesehen hat.«
»Er ist nicht sinnlos, Satai. Er hat es unserem Volk ermöglicht, zu überleben, all die Zeit.«
»Indem ihr euch opfert?« Skar lachte böse. »Kiina hat recht.
Das ist verrückt.«
»In deinen Augen vielleicht«, antwortete Titch. »Ihr tut es nicht, ich weiß. Ihr lehrt euren Männern und Frauen das Kämpfen, aber ihr lehrt sie nicht, zu sterben.«
»Der Sinn eines Kampfes ist im allgemeinen, ihn zu überleben«, sagte Skar vorsichtig.
»Ist er das? Hat Kämpfen überhaupt jemals einen Sinn gehabt?«
Skar seufzte. »Bitte, Titch, ich… ich habe jetzt nicht den Nerv, eine philosophische Diskussion zu führen.«
»Ich auch nicht«, antwortete Titch ernst. »Der Sinn des Kampfes ist der Kampf, mehr nicht. Es ist der Sinn eines Schwertes, zu schneiden. Der Sinn eines Pfeiles, zu töten. Und der einzige Daseinszweck eines Kriegers, zu kämpfen.«
Der Fehler in diesen Gedanken war so offensichtlich, daß Skar sich fragte, worauf Titch hinauswollte, denn auch der Quorrl mußte ihn erkennen, noch ehe er die Worte ganz ausgesprochen hatte. »Es gibt einen Unterschied«, sagte er. »Ein Schwert kann sich sein Schicksal nicht aussuchen. Es wird
gemacht.«
»Wir auch«, antwortete Titch bitter.
Skar wollte widersprechen, aber plötzlich erinnerte er sich an etwas, was Titch vor langer Zeit einmal zu ihm gesagt hatte, ohne daß er die wahre Bedeutung seiner Worte damals begriff:
Wir werden als Krieger gezeugt.
Natürlich hatte er nicht gewußt, wie diese Worte
wirklich
gemeint gewesen waren. Er weigerte sich selbst jetzt noch, sie zu glauben.
»Die Männer draußen vor dem Tor«, wandte Kiina ein. »Sie
hatten
Waffen, Titch.«
»Die Tempelgarde«, knurrte Titch. Skar vermochte nicht zu sagen, ob das Zittern in seiner Stimme Zorn oder Entsetzen war oder beides, aber Titchs Hände versuchten schon wieder, die Tischplatte zu zerbrechen. »Sie sind die einzigen, denen es erlaubt ist, Waffen zu tragen. Aber sie verlassen die Heilige Insel nie.«
»Bis jetzt nicht.«
Kiina warf Skar einen fast beschwörenden Blick zu. Skar hätte gerne mehr über die Kultur der Quorrl erfahren; mehr über dieses Geheimnis, das ihre gesamte Geschichte bestimmen mußte. Aber er spürte auch, daß er schon fast zu viel
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