Enwor 9 - Das vergessene Heer
für den Augenblick gehört hatte. Titch wirkte äußerlich beherrscht, aber das war er nicht. Der riesige Quorrl stand kurz vor dem Zusammenbruch, sowohl seelisch als auch körperlich. Skar wollte bei keinem von beidem dabei sein. Kiina hatte recht, das Gespräch vorsichtig wieder auf ihr ursprüngliches Thema zurückzulenken.
Sie konnten nicht so tun, als wäre nichts weiter geschehen, aber sie konnten zumindest über ein etwas weniger schmerzhaftes Thema reden.
»Warum haben sie diese Heilige Insel verlassen?« fragte er, als Titch keine Anstalten machte, auf Kiinas nur halb ausgesprochene Frage zu antworten. »Nur wegen ein paar Deserteuren?« Titch schüttelte müde den Kopf. »Es sind nicht nur
ein paar«,
sagte er. »Es hat immer einige gegeben, die versucht haben, zurückzukehren. Eine Handvoll. Ein paar Dutzend. Diesmal… der Krieger wußte nichts Genaues, aber es müssen Tausende sein.«
»Tausende?« Kiina riß überrascht die Augen auf.
»Das Heer hat sich von Dels Truppen getrennt«, berichtete Titch. »Der Mann, dem ich meine Nachfolge anvertraute, führte sie in die Berge, zu einem Ort, an dem die Todeszeremonie würdig abgehalten werden konnte. Aber viele sind desertiert, noch ehe sie ihn erreichten. Viele verweigerten den Befehl. Vielleicht hat der Krieger gelogen, aber er behauptet, daß es zu Kämpfen kam. Kämpfen zwischen denen, die sterben wollten, und denen, die sich weigerten.«
Skar entsann sich plötzlich einer ähnlichen Situation; vor wenig mehr als einem Monat, in Drasks Trutzburg. Damals war es
Titch
gewesen, der seine eigenen Krieger getötet hatte, aus einem viel nichtigeren Grund als dem, einen
Schwur
gebrochen zu haben. Aber er begriff auch fast im gleichen Moment, wie unfair dieser Vergleich war. Der Titch von damals hatte nichts mit dem Quorrl gemein, der ihm heute gegenübersaß.
»Das ist absurd«, murmelte Kiina.
»Absurd?« Titch schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Es ist… fürchterlich. Du begreifst nicht, was wirklich geschehen ist, Menschenjunges. Quorrl haben gegen Quorrl gekämpft; Brüder gegen Brüder, Väter gegen Söhne.
Das
ist absurd. Sie hatten recht, die Überlebenden zu jagen und zu töten. Kein Quorrl, der das Blut eines Quorrl vergossen hat, darf dieses Land wieder betreten.«
»Hatten sie auch ein Recht, die Leute hier umzubringen?« fragte Skar leise.
»Nein«, antwortete Titch. »Und das ist auch der Grund, aus dem
ich
sie umgebracht habe. Obwohl ich viel eher dich hätte töten sollen.«
»So?«
»Es ist eure Erfindung«, sagte Titch. »Wie nennt ihr es doch gleich? Ein
Exempel?
Ich glaube, das ist das Wort. Dieses Dorf ist nicht das einzige, dessen Bewohner den Heimgekehrten Unterschlupf gewährte. Sie haben es ausgelöscht, um die anderen zu warnen.«
»Und warum gerade dieses?« fragte Kiina.
»Weil es
mein
Dorf ist«, antwortete Titch leise. »Ich wurde hier geboren. Sie wußten, daß ich hierher zurückkehren würde.«
Er lächelte bitter. »Ich bin ein bekannter Mann, Menschenkind.
In meinem Volk fast so bekannt wie dein Freund Skar. Welches Beispiel wäre wohl abschreckender als das, ausgerechnet
mein
Dorf auszulöschen?«
»Und was willst du jetzt tun?« fragte Skar.
Titch starrte ihn an. »Was soll ich tun, deiner Meinung nach?«
»Es gibt zwei Möglichkeiten — du kannst hierbleiben und dir selbst leid tun, bis sie kommen und dich holen, oder du kannst versuchen, die Schuldigen an diesem Massaker zu finden und zu bestrafen.«
Titchs Antwort bestand aus einem dünnen, unendlich bitteren Lächeln. »Bestrafen«, murmelte er. »Rache! Macht sie die Toten wieder lebendig?«
»Nein«, antwortete Kiina an Skars Stelle. »Aber sie hilft den Lebenden, besser damit fertig zu werden. Auch meine Heimatstadt wurde vernichtet. Ich habe keine Sekunde lang daran gedacht, aufzugeben.«
Skar signalisierte ihr mit Blicken, den Bogen nicht zu überspannen, aber Titch reagierte ganz anders, als er erwartet hatte. Für lange, lange Zeit, fast eine Minute, starrte er Kiina nur ausdruckslos an, aber dann änderte sich etwas in seinem Blick, und plötzlich hob er die Hand und berührte unendlich sanft das Gesicht des Mädchens. Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine groben Züge. Er sagte kein Wort, sondern verharrte eine weitere halbe Minute in dieser Haltung, stand dann plötzlich auf und trat ans Fenster, um hinauszublicken. Kiina sah Skar fragend an, aber er antwortete nur mit einem Achselzucken. Er verstand so wenig wie sie, was das
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