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Er

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Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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Vergangenheit interessiert mich nicht«, sagte sie. Sie verstärkte den Druck auf seine Lippen. »Erzähl mir nichts davon. Ich werde dir auch nichts über meine erzählen.«
    Sie drückte ihm einen beschwichtigenden Kuss auf die Wange.
    »Ich glaube nicht«, sagte er, »dass man jemanden kennenlernen kann, wenn man nichts über seine Vergangenheit weiß.«
    »Ach, Hannes! Mit Vergangenheit meinst du doch meine Männer. Du möchtest wissen, mit wie vielen ich geschlafen habe. Aber möchtest du auch wissen, mit wem ich am liebsten geschlafen habe? Wen ich am meisten geliebt habe? Das dann doch nicht. Also, du kriegst von mir entweder die ganze Vergangenheit oder gar keine. Und die ganze willst du gar nicht kennen.«
    Ein kühler Wind kam auf, es hatte etwas Theatralisches.
    »Weißt du, warum die Liebe mit zwanzig so intensiv und strahlend ist?«, sagte Lea. »Weil sich dann zwei kleine Segelbötchen begegnen, und ihre weißen Segel berühren sich leicht. Wenn man sich aber mit vierzig oder fünfzig verliebt, ist es, als würden zwei schwer beladene Frachtschiffe sich einander nähern. Jetzt ist die Leichtigkeit dahin, und warum? Weil jeder eine ganze Menge Vergangenheit an Bord hat, und damit muss der andere zurechtkommen. Die meisten Beziehungen in unserem Alter scheitern an der Vergangenheit, und deshalb will ich davon nichts wissen.«
    Sie stand auf.
    »Lass uns wenigstens so tun, als ob hier etwas ganz Neues beginnt«, sagte sie. »Mir ist kalt, ich möchte nach Hause.«
    Erst vor der Haustür brachte er es zu Ende.
    »Du bist die Frau meines Lebens«, sagte er.
    Ihre Lippen öffneten sich.
    »Das meinst du nicht im Ernst?«, fragte sie.
    »Es stand auf deinem Badezimmerspiegel.«
    »Auf dem Spiegel? Wie meinst du das?«
    »Jemand hat es mit dem Finger hingeschrieben, als der Spiegel beschlagen war, nach dem Duschen.«
    »Du bist die Frau meines Lebens?«
    »Ja.«
    Lea schaute ihn an, ihre Lider zwinkerten.
    »Ach so. Jetzt verstehe ich! Du denkst, dass mein Liebhaber das geschrieben hat.«
    »Ich möchte nur wissen …«, sagte er, ob ich der Einzige bin, dachte er.
    »Ob ich mit ihm schlafe, wenn du mal kurz auf der Toilette bist?« Sie steckte den falschen Schlüssel ins Schloss, das Klimpern, während sie den richtigen suchte. »Du bist die Frau meines Lebens! Ich würde nie mit einem Mann schlafen, der so was auch nur denkt.«
    »Aber einer hat es geschrieben.«
    »Jetzt gehst du ein bisschen zu weit. Aber sicher, einer hat es geschrieben. Besser eine. Toni. Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen. Sie hat manchmal einen ziemlich maliziösen Humor. Hast du noch eine Stunde Zeit?«
    »Ja.«
    »Ich habe Lust, dir dabei zuzusehen, wie du einen Guga isst.«
    »Einen was?«
    »Guga. Du willst mich doch kennenlernen, oder nicht?«
    »Du lenkst vom Thema ab.«
    »Es gibt kein Thema. Aber es gibt einen Guga.«

[Menü]
    10
    E R VERSTAND NICHT, wie sie den Gestank aushielt. Auf dem Nachhauseweg hatte sie die Straßenseite gewechselt, um die Geruchsschwaden der Dönerbude nicht durchqueren zu müssen. Das hier aber schien sie nicht zu kümmern.
    »Das riecht schrecklich«, sagte Jensen.
    »Nicht für mich.«
    »Was ist es überhaupt?«
    »Guga.«
    »Ja. Aber was ist das? Ein Vogel?«
    »Wie sieht es denn aus?«
    Sie hob das Tier an einem Flügel oder Bein hoch. Ein plattgedrücktes, verwesendes Hähnchen.
    »Es ist ein junger Tölpel«, sagte sie.
    »Und das macht dir nichts aus?« Der Gestank griff an Jensens Magennerven, er drückte sich eine Papierserviette an die Nase.
    »So roch meine Kindheit«, sagte sie.
    Sie tunkte den Vogel in kaltes Wasser und schrubbte mit einer Bürste das Salz und Fett von der Haut. Die Feuchtigkeit intensivierte den Gestank, Jensen öffnete das Fenster. »Ich kann das nicht essen«, sagte er.
    »Wart’s ab.«
    In einer zweiten Pfanne brodelte Wasser, Lea ließ das geschrubbte Tier hineingleiten. Ab und zu schöpfte sie das Fett von der Wasseroberfläche. Jensen schnüffelte an seinem Pullover, der bereits den Gestank angenommen hatte.
    Sie legte den bleichen, dampfenden Fleischfladen auf einen Teller.
    »Lass es dir schmecken«, sagte sie.
    »Ich kann nicht.«
    »Versuch es.«
    »Ist das eine Art Initiationsritus? Du sagst, es riecht für dich nach Kindheit. Wo bist du denn aufgewachsen?«
    »Lewis. Das ist eine Insel der Äußeren Hebriden.«
    »Bist du Schottin?«
    »Du bist der Erste, der das weiß.« Sie schenkte ihm einen verträumten Blick. »Die meisten haben von den

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