Er
Schafe nicht zählen, die für ihn auf den Weiden fett wurden, und wenn’s ihm zu langweilig wurde, eröffnete er eine neue Autowerkstatt. Für ihn hätten die Engel das Schwert gezückt und Angus den Kopf vom Hals gehauen. Aber natürlich wusste der alte Alasdair nicht, welchen Fehler seine Tochter gerade beging.
»Ist das so unverständlich?«, hatte sie Angus gefragt, und er sagte: »Natürlich nicht.« Sein Leben erforderte täglich Lügen, sie gingen ihm leicht von den Lippen.
»Komm«, sagte Lea, sie drängte vorwärts. Das Rosalea war nicht mehr weit, es winkte vom Hügel. Der Regen wurde dichter und kälter, sie hätten jetzt sowieso Unterschlupf gesucht. Ihre Schritte schmatzten. Lea hätte Calum MacLeod haben können. Die Mädchen kicherten, wenn Calum vorbeiging, sie steckten ihm Zettelchen in die Jackentasche, aber er schenkte Lea ein Buch. Und Lea gab es ihm zurück. Er schenkte es ihr noch mal. Sie gab es ihm noch mal zurück, die ganze Insel sprach darüber. Beim Schulfest kam Lea auf Angus zu.
»Ich möchte tanzen«, sagte sie.
Angus schaute sich um.
»Mit dir«, sagte sie.
»Das ist nicht möglich«, sagte er.
»Es ist mein Lieblingslied«, sagte sie.
Und dann tanzten sie. Sie zog und er schob, für Drehungen fehlte ihnen der Mut, denn sie tanzten nicht zur Musik, sondern zu den Blicken der anderen.
»Angus, zieh den Bauch ein«, rief Calum, »sie kriegt keine Luft!«
Es gab auf der Welt Menschen, die unsichtbar waren, und jeder, der ihnen nahe kam, trat auf sie, es war kein böser Wille.
Es regnete jetzt so heftig, dass sie rannten, die weiße Plastiktüte schwang an Leas Seite hin und her. Die Tür des Rosalea war nur angelehnt, schon lange machte ein Schloss keinen Sinn mehr. In dem Haus roch es nach Hund, nach dem Talg ihrer Drüsen, nach Moder und Schafscheiße, die die Männer unter ihren Schuhsohlen mitbrachten.
»Ich war noch nie mit einem Mann … intim«, hatte Lea vor einer Woche gesagt. »Und du? Hast du’s schon mal getan?«
»Ist schon vorgekommen.« Er war drei Jahre älter, er war ihr diese Lüge schuldig.
»Ich möchte, dass du der Erste bist«, sagte sie.
Es gab nur ein Möbelstück im Rosalea, ein verrostetes Bettgestell aus Messing, auf der Matratze fuhren die Mäuse im Winter Schlitten, so sagte man, weil sie so zerbeult war.
»Jetzt verstehe ich«, sagte Lea. Auf dieser Matratze wollte selbst im Sommer niemand nackt liegen. Schamhaft holte sie das weiße Bettlaken aus der Plastiktüte, Angus stieg die Hitze ins Gesicht. Lea warf das Bettlaken über die Matratze, strich es mit den Händen glatt und setzte sich darauf, mit geschlossenen Knien. Es war kalt. Angus pochte ein Reim zwischen den Schläfen: Im kalten Wasser steht er nicht/und wenn man auch Gebete spricht.
»Wollen wir uns küssen?«, fragte Lea. Sie saß auf dem Bett, und er stand an der Tür, und Angus wusste, dass die Entfernung unüberwindbar war. Sie zog ihren Rock hoch und legte sich mit geschlossenen Augen hin. Es erregte ihn nicht, es war zu weit weg und es galt nicht ihm. Unwillkürlich drehte Angus sich um, wie damals, als sie ihn zum Tanzen aufgefordert hatte. Dass da niemand sonst war, bedeutete nicht, dass es nicht doch ein Irrtum war. Der Berg war zu hoch, die See zu stürmisch, und weit entfernt, am Horizont, zog sie ihren Rock aus, ihren Pullover, ihren Büstenhalter, und als sie nackt auf dem weißen Leinentuch lag, war sie so weit weg, dass er genauso gut ein Bier hätte trinken können. Er hatte in den letzten Wochen, wenn er sich einen runterholte, immer an sie gedacht, aber in diesen Vorstellungen war sie viel größer gewesen. Er hatte sie sehen können, jetzt sah er sie nicht mehr, ihre Brüste, ihre Beine, alles war zu einem winzigen Punkt geschrumpft.
»Du hast mich gezeichnet«, sagte er. Er musste mit ihr sprechen, er hätte sie sonst aus den Augen verloren, sie wäre ihm einfach weggedriftet.
»Was?« Ihre Stimme klang verstört.
»Du hast mich gezeichnet. Weißt du noch? Du hast mir die Zeichnung geschenkt.« Er bewahrte sie sorgfältig auf, das musste sie nicht wissen. Ihn hatte noch nie jemand gezeichnet, und dass sie es getan hatte war ein Hohn, genau genommen, es konnte, wie alles andere, nicht wirklich stimmen. Aber er erkannte sich auf der Zeichnung wieder, und deswegen stimmte es vielleicht doch.
»Gefalle ich dir nicht?«, fragte sie.
»Es ist eine schöne Zeichnung«, sagte er, und eine Macht drehte ihn halb um die eigene Achse und stieß ihn aus dem Zimmer
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