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Er

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Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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und darin steckte der Stachel. Sie hakte sich bei ihm unter und bestimmte das Tempo der Schritte. Die kahlen Äste der Bäume zeichneten sich gegen den winterblauen Himmel ab, auf dem Parkweg lag vereister Schnee, Lea sagte: »Lass uns hier entlanggehen. Nicht an der Spree. Dort riecht es nach Diesel.«
    Sie gingen Hüfte an Hüfte, er spürte die Stöße ihrer Schritte, es war eine horizontale Bewegung, ein Pendeln, sie wogten gemeinsam hin und her, während sie gleichzeitig nach vorn ausschritten. Sie war vier Tage krank gewesen, er spürte es noch an ihren Händen, die ihm erschöpft vorkamen. Sie blieb stehen, hielt ihr Gesicht in die Sonne, mit geschlossenen Augen fragte sie: »Kennst du noch einen?«
    Er hatte ihr gestern einen Witz erzählt, nur um sie lachen zu sehen. Sie lag im Bett, mit Restfieber, ihm fiel keine amüsante Bemerkung ein, aber er erinnerte sich an einen Witz. Und jetzt, im Park, erzählte er ihr den anderen aus seinem Repertoire, er fand ihn selber immer wieder lustig: Zwei Trinker stehen an einer Würstchenbude, jeder eine Bierflasche in der Hand. Sagt der eine: Lass uns morgen doch mal was ohne Bier machen. Sagt der andere: Du, für so etwas habe ich überhaupt keine Zeit.
    Und Lea lachte. Sie schaute ihn dabei an, und wieder, wie schon beim ersten Mal, als er sie lachen gesehen hatte, war er hingerissen. Wenn sie lachte, hätte man ihr sein Leben anvertraut, denn da gab es keinen Makel, keinen Zweifel. Sie war innen schön, aufrichtig und voller Wärme, dieses Lachen bezeugte es. Aber er fühlte sich nicht wegen dieses Lachens zu ihr hingezogen, auch nicht wegen ihrer Eigenschaften, oder weil er sie attraktiv fand. Es war etwas anderes, etwas Unbenennbares, ein Gefühl der Unmittelbarkeit, der Heimat. Aber sobald man es benannte, stimmte es nicht mehr. Seine Zuneigung war kein Gebiet für Worte, hier herrschte die reine Empfindung, und das war es, das ihn so verletzlich machte.
    »Du bist der erste Mann, der mir Witze erzählt«, sagte sie.
    »Ich erzähle sonst nie Witze.« Aber nicht der erste Mann, der bei dir duscht, dachte er, und der Stachel drehte sich um die eigene Achse.
    Gestern, als sie sich liebten, unterbrach sie ihn. »Was ist denn?«, fragte sie.
    »Nichts. Warum?«
    Sie warf ihm vor, er sei hektisch. Das stimmte nicht ganz, er wollte nur gut sein, verglichen mit dem anderen, dessen Existenz unbestreitbar war. Wie lange blieb in Leas Wohnung der Badezimmerspiegel ungeputzt? Die Haushaltshilfe, Luzi, kam dreimal die Woche, Jensen konnte sich ausrechnen, wann ungefähr der andere mit seinem Finger den Spiegel beschrieben hatte. Luzi war allerdings mit Grippe längere Zeit zu Hause geblieben, man durfte ein paar Tage dazuzählen, dadurch vergrößerte sich der Abstand zwischen dem letzten Auftritt des anderen und Jensens erstmaligem Erscheinen.
    Sie gingen weiter, Jensen fasste sie um die Hüfte, er mochte es, die Gehbewegungen auf seinen Handflächen zu spüren. Wenn er sie von der Seite anschaute, waren ihre Augen durchsichtig vom Sonnenlicht, die Pupillen schienen zu schweben. Sie bedankte sich bei ihm für die letzten Tage, er hoffte, dass sie auch seine bloße Anwesenheit in den Dank miteinschloss.
    »Ohne dich wäre es schwierig geworden«, fügte sie hinzu. Sie meinte also doch nur seinen Einsatz als Koch, Badezimmerspiegelputzer (den hatte er als Erstes und besonders aufmerksam gereinigt), und dass er Toni bei den Hausaufgaben assistiert hatte.
    »Was ist dein Lebensziel?«, hatte Toni ihn gefragt.
    »Nicht kompliziert zu sein«, hatte er geantwortet.
    »Meins ist es, von hier auszuziehen, sobald ich achtzehn bin. Mama ist langweilig. Und sie wird mit ihrem Leben nicht fertig.«
    »Ach ja?« Wollte er wirklich mit einer Elfjährigen darüber sprechen? »Langweilig ist sie jedenfalls nicht.«
    »Das sagst du, weil du in sie verliebt bist. Dann denken Männer nur noch mit ihrem … na, du weißt schon.«
    Er war nicht in Lea verliebt. Er sagte: »Eine Schüssel mit Mehl, Eiern und Butter ist noch kein Kuchen. Aber natürlich hat das Ganze etwas Unausweichliches. Theoretisch kann man den Teig wegwerfen, aber die meisten schieben ihn in den Backofen.«
    Deutlich konnte Jensen in Tonis Augen das Mahlwerk ihrer Gedanken sehen, die Räder knirschten und kamen zum Stillstand.
    »Soll das ein Rätsel sein?«, fragte sie. »Ich mag Rätsel. Aber das hier klingt blöd.«
    Sie kochte also auch nur mit Wasser.
    »Anna findet, dass du schöne Hände hast«, sagte Lea. Sie setzte

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