Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Er

Er

Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
Vom Netzwerk:
zitternden Händen konnte das eine Weile dauern. Bis morgen vielleicht. Oder übermorgen.
    So ein Bockmist, dachte er. Am letzten Tag noch ein Feigling. Erst vor sich selbst rumprahlen, ich bring mich um, wirst schon sehen, und dann den Schwanz einziehen. Wie damals im Rosalea. Wenn er noch einen Funken Ehre im Leib hatte, ging er jetzt nach draußen und suchte sich einen besonders fetten Laster.
    Sean spült schon, Angus, hörst du’s. Du solltest dich beeilen.
    »Ich bin ja schon unterwegs«, sagte Angus.
    Dann sah er Lea.
    Drüben auf der anderen Straßenseite.
    Sie hielt jemandem die weiße Haustür offen, einem Kind.
    Lea.
    Immer, wenn er sie sah, überkam ihn das Gefühl, dass in ihm drin einst noch ein anderer Angus gelebt hatte, kein Rüpel, der nur aus Händen und Hunger bestand und dem jedes Wort im Mund zur Rohheit verkam. Sondern ein Angus, der in ein silbernes Netz eingesponnen war und auf die Sonne wartete, die die Verwandlung in Gang brachte, und diese Sonne war Lea. Sie hätte das Beste aus ihm rausgeholt, und diese Überzeugung war schmerzhaft. Denn jetzt war es zu spät. Nach jenem Nachmittag im Rosalea war der andere Angus in seinem Kokon erstickt wie eine Raupe, wenn es zu trocken ist.
    Angus schaute hinüber. Selbst aus so großer Distanz war Lea schön. Ihr rotes Haar auf dem Regenmantel.
    »Findest du das Gorm schöner?«, hatte sie ihn damals mal gefragt. Viele der anderen schönen Mädchen auf Lewis hatten das Gorm, eine besondere Haarfarbe, ähnlich dem Gefieder schwarzer Raben.
    »Kann ich nicht sagen«, hatte er gesagt.
    Ein schwarzer Hund war dabei, das Mädchen wich ihm aus, als er aus dem Hauseingang kam.
    Sie hat ein Kind und einen Hund, dachte Angus. Das andere Kind hatte sie abgetrieben, er fand es merkwürdig, dass Frauen trotzdem wieder eins kriegen konnten. Das war aber alles nicht mehr wichtig, als er den Mann aus der weißen Tür kommen sah.
    Der Mann küsste Lea auf den Mund.
    Ein Wind blies durch Angus’ Kopf, ein Wind, der die Gedanken wegwehte. Er rannte ihnen nach wie einer Mütze, die der Sturm einem vom Kopf reißt. Sein Herz blieb stehen, die Brust wurde eng. Als Angus wieder atmen konnte, küsste der Mann Lea noch einmal. Noch immer kriegte Angus seine Gedanken nicht zu fassen.
    Es war nicht möglich.
    Aber es war so.
    Angus hatte die besten Augen von Port Nis. Wenn andere in der Entfernung ein Haus sahen, sah er bereits, dass die Vorhänge zugezogen waren. Wenn sie die Fenster sahen, sah er den Blumentopf auf dem Fensterbrett.
    Es war vollkommen unmöglich.
    Aber es war Craig.
    Der Mann, der Lea küsste, war Craig MacAskill.

[Menü]
    19
    D ER GEHSTEIG SCHWANKTE WIE ein Boot, Angus stützte sich auf eins der geparkten Autos. Übers Dach hinweg sah er den Toten, drüben auf der anderen Straßenseite. Der Tote küsste Lea auf den Mund.
    Angus schloss die Augen.
    Der Großvater hielt einen Stuhl in den Händen und nagte den Lack von einem Stuhlbein ab, er ließ sich das Hähnchen schmecken. »Mit ’nem Gebiss hätte er das nicht geschafft«, sagte Angus’ Mutter. »Aber den Morrisons fallen die Zähne erst aus, wenn der Teufel sie ihnen ausreißt.«
    Angus öffnete die Augen wieder.
    Der Tote nahm den Hund an die Leine. Es sah alles echt aus. Das Mädchen gähnte, der Sportsack, der ihm an den Schultern hing, trug eine gelbe Aufschrift. Man bildete sich vielleicht einen Toten ein, der wieder lebte, aber nicht eine gelbe Aufschrift auf einem Sportsack. Und keinen Hund. Kein Mädchen, das gähnte. Angus schwoll das Gesicht an. Er berührte es, es wurde dicker. Das bildete er sich ein. Aber nicht Craig. Er bildete sich auch nicht ein, dass ihm etwas Warmes die Beine runterlief. Er griff sich in den Schritt, alles nass. Craigs Anblick brachte seinen Körper durcheinander, öffnete Schleusen, trieb ihm das Herz in den Hals, drehte ihm das Gehirn im Kopf um. Der Magen flatterte, aus den Knien hatte Craigs Anblick die Scharniere entfernt. Angus spürte deutlich, dass Beine aus zwei Knochen bestanden, und mit den oberen Knochen balancierte er auf den unteren wie auf Stelzen. Die Füße schwammen weg. Drüben spannte der Hund die Leine. Der Tote küsste Lea auf den Mund. Das Mädchen gähnte. Es spielte keine Rolle, ob das alles schon einmal geschehen war, was zählte, war die gelbe Aufschrift auf dem Sportsack. Jetzt konnte Angus sie auch lesen.
    Aikido Club Berlin.
    Man konnte sich nichts einbilden, von dem man keine Ahnung hatte, was es war. Wenn er es sich eingebildet

Weitere Kostenlose Bücher