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Er

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Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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hätte, hätte da Fußball Club gestanden. Oder Night Club Berlin.
    Angus spürte etwas auf seiner Hand. Er blickte hinein. Er sah seine Handlinien. Ein vorbeifahrender Lastwagen spritzte ihm Regengischt ins Gesicht.
    Die Zeit verging auf merkwürdige Weise, so als würde ein Sekundenzeiger stottern.
    Craig MacAskill küsste Lea.
    Alles wiederholte sich, damit Angus es begreifen konnte. Ein Toter atmete wieder.
    Überleg mal, Angus. Was könnte das bedeuten?
    »Er ist nicht tot«, sagte Angus. Und jetzt merkte er, dass in dem Auto, auf das er sich stützte, um nicht von den unteren Beinknochen runterzustürzen, ein kleiner Hund wütend gegen die Fensterscheibe bellte, seine Fangzähne lagen bloß.
    »Er war gar nicht tot.«
    Die Rädchen begannen sich zu drehen, sie griffen ineinander und schoben einen Gedanken nach dem anderen aus der Walze. Es waren zusammenhängende Gedanken, denen man vertrauen konnte.
    Craigs Leiche war nie gefunden worden.
    Keiner hatte nach ihr gesucht. Das Meer um Sula Sgeir gab nichts wieder her. Die Brandung, Stürme, die Strömung, darin ging eine Leiche verloren, sie tanzte mit den Fischen, als Erstes erreichte der Schädel den Meeresgrund.
    Aber Craig war nicht tot. Er küsste da drüben Lea.
    Glenn Murray, dachte Angus. Glenn Murray. Einen in hundert Jahren spuckt das Meer wieder aus, wenn Gott an der Schraube drehte. Glenn Murray, der Einbeinige. Als Kind war Angus ihm ausgewichen, der Mann hätte ja tot sein müssen. War von den Klippen gestürzt, seine Witwe schielte schon nach einem Neuen. Aber französische Segler hatten Glenn Murray aus dem Meer gefischt. In Edinburgh sägten sie ihm das Bein ab. Er sang noch einundzwanzig Jahre im Kirchenchor falsch.
    Angus schlug die Faust gegen die Fensterscheibe des Wagens, der Hund wurde verrückt vor Angst und Wut.
    »Dieses Dreckschwein!«, sagte Angus. Er spürte die Kraft in seine Beine zurückkehren.
    Craig stürzt von den Klippen.
    Das Meer schnappt ihn sich.
    Die Strömung treibt ihn von Sula Sgeir weg.
    Er lebt noch, es geht ihm wie Glenn Murray. Fischer, Segler, irgendwer zieht ihn an Bootshaken aus dem Wasser.
    In irgendeinem Krankenhaus päppeln sie ihn auf.
    Aber er kehrt nicht nach Lewis zurück.
    »Dieser verfluchte Mistkerl!«, sagte Angus.
    Craig macht sich aus dem Staub.
    Seine Frau soll denken, dass er tot ist.
    Damit er hier mit Lea leben kann.
    Er küsst sie. Er zeugt ein Kind mit ihr.
    Angus biss sich auf die Zunge. Das Blut schmeckte nach Eisen. Ein Messer. Er wünschte sich ein Messer.
    Drüben vor der weißen Haustür gähnte das Mädchen. Der Hund zog an der Leine. Lea strich sich mit zwei Fingern eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Craig küsste sie auf den Mund. Angus sah ein Leuchten. Es kam aus ihm selbst, es war das Leuchten der Gerechtigkeit. Anderthalb Jahre lang hatte Craig ihn mit einer Schuld beladen, die keine war. Denn dieser Hurensohn lebte!
    Ich hab ihn getötet, und er lebt!, dachte Angus. Es war kein Leuchten. Es war Gelächter. Er selbst lachte. Er erlebte etwas, das noch kein Mensch vor ihm erlebt hatte, er, Angus Morrison, einer, an dessen Wiege sich alle gelangweilt hatten. Er ließ einen Mann von den Klippen stürzen, aber das Glück entschied sich nicht für ihn. Nicht mal einen miesen, bösen Erfolg gönnte es ihm. Craig hingegen warf das Glück sich an den Hals. Wie Lea auch. Und während er, Angus, anderthalb Jahre lang jeden Tag die Hände gegen die Schuld stemmte, die sich wie eine Bleiplatte auf ihn legte, legte Craig sich auf Lea und besorgte es ihr, wie es nur die Lebenden tun können. Denn Craig war nicht tot. Er war nur ein dreckiger Lügner, der allen weisgemacht hatte, dass seine Knochen von der Strömung an den Atlantikkabeln entlang nach Kanada geschoben worden waren.
    Alle bekamen das Brot. Angus bekam die Luft zwischen den Scheiben. Und für diese Luft musste er sich auch noch entschuldigen.
    Er schlug mit dem Fuß gegen die Wagentür, der Hund verdrehte die Augen, er spritzte beim Bellen Lefzenschaum an die Scheibe. Angus nahm aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr, einen Radfahrer, der auf dem Gehsteig an ihm vorbeifuhr, die Kapuze tief in die Stirn gezogen, er hatte etwas Feindliches. Angus stieß den Radfahrer um, der stürzte seitlich hin, die Klingel bimmelte ins Leere.
    Das Leben war ein Feind.
    Angus begriff es mit seinem Blut, mit seinen Knochen, und er wollte sein Wissen rübertragen zu Craig und es ihm in den Leib rammen.
    Angus trat auf die Straße.
    »Craig!«, rief

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