Er
gewöhnungsbedürftig. Jensen schwieg, trank bitteren Tee.
Toni klingelte, warf den Schulsack in den Flur, Lea rieb ihr mit einem Frottiertuch die tropfenden Haare trocken. Der Hund schnüffelte an den Neuigkeiten. Während Lea und Toni den weiteren Tagesablauf besprachen, legte Jensen sich aufs Sofa, er fühlte sich merkwürdig matt und unerlöst. Leas Hang zu Theorien schien ihm manchmal Ausdruck einer gewissen Kälte zu sein, so als müsse sie ihre Gefühle in Vernunftschachteln pressen, damit sie in ihr Herz passten. Ihre Augen, wenn sie ihn anblickte, wünschte er sich wärmer, es war oft nur der Glanz von Glasmurmeln darin. Sie berührte ihn gewissermaßen mit einem Stöckchen. In ihren Überlegungen zur Liebe spielte stets die Zeit die Hauptrolle, und Zeit hatte für Jensen denselben unromantischen Beigeschmack wie Geld. Aber dann wieder ihr unvergleichliches Lachen, als würde ein Schmetterling die Flügel ausbreiten, und nun erkannte man das wunderschöne Muster.
»Wir kennen uns doch noch gar nicht«, sagte sie oft.
Und heimlich zeichnete sie ihn, daran zog er sich aus seinen Zweifeln hoch bis zu Dahlia Lavi. Der Name fiel ihm plötzlich ein und jener Schlager von damals: »Meine Art, Liebe zu zeigen, das ist ganz einfach schweigen.« Er ersetzte schweigen durch zeichnen.
»Warum lachst du?«, fragte Toni. Sie sah mit den frottierten Haaren aus, als hätte sie ein Abenteuer hinter sich.
»Über Dahlia Lavi«, sagte Jensen.
»Wer?«
»Kennst du nicht.«
»Klingt ungarisch«, sagte Toni. »1944 wurden alle ungarischen Juden von den Nazis deportiert. Einige versteckten sich in Kleiderschränken, aber die Nazis machten die Schränke auf und holten sie raus. Das finde ich widerlich. Menschen aus Kleiderschränken rausholen.«
»Sie hat in Geschichte eine Eins«, sagte Lea. »Im Aikido eine Fünf.«
»Das wird gar nicht benotet. Und wenn, hätte ich eine Drei. Ich könnte den Hund mit Yokumen Uchi töten.« Sie brachte die Arme in Position und imitierte vor dem Hund einen Kopfschlag.
Leas Handy klingelte. Es war die Aushilfe im Blumenladen. Die Pläne mussten geändert werden.
»Sie hat Fieber«, sagte Lea.
»Aber ich will zu Aikido!«, sagte Toni. »Heute zeigt der Meister uns Mae Geri. Tritt in den Bauch. Wir dürfen’s an Sandsäcken üben, und wir dürfen uns dabei jemanden vorstellen, den wir nicht mögen.« Sie schaute Jensen an.
»Ich muss ins Geschäft«, sagte Lea. »Könntest du sie bringen?«
»Natürlich«, sagte Jensen, sein Gewissen versetzte ihm einen kleinen Schlag. Marleen wurde in Yonkers von einem Hausmädchen betreut, das vielleicht selbst schon Kinder hatte und sich dieselbe Frage stellte wie er: Warum kümmere ich mich um fremde Kinder? Annick in ihrem Baldachinbett mit Windpocken. »Ja, ich fahre sie hin«, sagte er. Richtig wäre es aber gewesen, Marleen in Yonkers abzuholen. Kinder waren eine unerschöpfliche Quelle des schlechten Gewissens.
»Im März kommt übrigens meine Tochter nach Berlin«, sagte Jensen.
»Du hast eine Tochter?«, sagte Toni.
»Hol deine Aikidosachen«, sagte Lea. »Ihr müsst gleich losfahren. Wir besprechen das ein andermal.«
»Und die kommt hierher?«, fragte Toni. »Wo soll die denn schlafen? In meinem Zimmer bestimmt nicht. Das könnt ihr vergessen, okay? Die hat hier überhaupt keinen Platz. Und ich mag sie nicht. Ich mag Mädchen nicht. Die kann in der Badewanne schlafen, dann dreh ich das Wasser auf und sie ertrinkt! Das arme Kind!« Ihre Augen waren zwei große Tränen. »Ich will hier kein anderes Mädchen!«, sagte sie. »Ich will mein Zimmer für mich haben und überhaupt alles. Wie lange will die denn überhaupt bleiben? Eine Woche? Spinnt ihr eigentlich!«
Lea umarmte sie, strich ihr über den Kopf, über den Rücken, wiegte sich mit ihr hin und her.
»Sie kommt nicht hierher«, sagte Lea. »Sie ist Hannes’ Kind. Sie wohnt bei ihm, wenn sie in Berlin ist. Du wirst sie gar nie sehen, wenn du nicht willst. Das verspreche ich dir.«
»Schwör es!«
»Ich versprech’s dir.«
»Schwör es!«
»Sie ist noch ein Baby!«, sagte Jensen empört. Er stand hier mit nichts als einem Kind in den Armen, das nicht da war, dessen erste Worte von einem neuen Vater gehört wurden, Marleen war ein Geisterkind, nicht viel mehr als eine Vorstellung. Und gegen das Wenige, das er besaß, das er Familie nennen konnte, bildeten Lea und Toni gerade eine Mauer, sie umarmten sich gegen Marleen, sie ließen nicht einmal den Gedanken an das Kind in ihre
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