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Er

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Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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sie verharrten beide in dieser Berührung, bevor die Hände wieder ihre Tätigkeit aufnahmen.
    »Danke, dass Sie ihm Wasser gebracht haben«, sagte Jensen. »Ich habe den Hund in der Eile vergessen. Weil ich zur Beerdigung musste.« Er versuchte, seine Augen ins Spiel zu bringen, indem er sie weiter öffnete, als nötig war. Die Verkäuferin nahm davon aber keine Notiz.
    »Haben Sie Kinder?«, fragte sie.
    »Ja. Ein Mädchen.«
    »Aber das Kind lebt nicht bei Ihnen. Sie tragen keine Verantwortung für das Kind. Im täglichen Leben, meine ich. Sonst hätten Sie den Hund nicht vergessen.«
    »Nein. Meine Tochter lebt nicht bei mir.«
    »Ihre Frau hat Sie verlassen, nicht wahr?«
    »Das war ja nicht schwer zu erraten.«
    »Hat der Hund ihr gehört?«
    »Ja.«
    »Warum hat sie Ihnen den Hund überlassen?«
    »Es wäre zu aufwendig gewesen. Sie wohnt jetzt in den USA, die Einfuhrbestimmungen für Hunde sind streng.«
    »Ich glaube nicht, dass das der Grund war. Wenn man einen Hund liebt, nimmt man ihn mit, wenn man geht. Ich würde sagen, sie hat den Hund nicht gemocht. Deshalb fand sie die Einfuhrbestimmungen so streng. Der Aufwand hat sich für sie nicht gelohnt. Und jetzt frage ich mich: Warum hatte sie einen Hund, wenn sie nicht an ihm hing? Vielleicht hat sie ihn ja einfach nur gebraucht? Es ist ein schwarzer Labrador. Und er ist übererzogen. Ist es ein Blindenhund?«
    »Nein«, sagte Jensen, und irgendwo in der Hölle bimmelte ein Glöcklein. Er wusste nicht genau, warum er log. Weil er ihr den Triumph der schnellen Erkenntnis nicht gönnte? Oder weil ihn eine blinde Frau verlassen hatte und er nicht wollte, dass die Verkäuferin dachte: Wenn nicht einmal eine Blinde bei ihm bleibt …?
    Sie wurden unterbrochen. Ein blondes, mageres Mädchen stieß mit der Schulter die Tür des Blumenladens auf. Auf der Schwelle blieb das Mädchen stehen, fauchend, die Kälte des Winterabends im Rücken und einen Sack Hundefutter im Arm. Es arretierte mit dem Fuß die Tür, denn es hatte nicht vor, lange zu bleiben.
    »Kann ich jetzt gehen?«, fragte das Mädchen.
    »Ja«, sagte die Verkäuferin. »Leg’s einfach hin.«
    »Nein, ich schmeiße es hin!« Und das Mädchen schmiss den Sack. »Wegen dem blöden Hundefutter komme ich zu spät!«
    »Ruf an, wenn du dort bist!«, rief die Verkäuferin dem Mädchen hinterher. Das Mädchen konnte es aber schon nicht mehr hören, sein blondes Haar verschwand in der Nacht.
    »War das Ihre Tochter?«, fragte Jensen.
    »Ja. Und das ist für Ihren Hund.«
    Sie stand noch immer über ihm auf der Leiter, die erhöhte Position würde sie auch niemals aufgeben, das war ihm bereits klar. Es ging um den Hund, und er hatte seit eineinhalb Jahren mit keiner Frau mehr geschlafen, war auch keiner so nahe gekommen wie ihr. Ihr Rocksaum tänzelte vor seiner Nase, und ihre dicken, schwarzen Strümpfe atmeten in seine Richtung.
    »Der kriegt jetzt was zu futtern«, sagte sie in verändertem, unbeschwerterem Tonfall.
    Sie wollte den Hund nicht im Geschäft füttern, sondern bei sich in der Wohnung. Jensen sagte dazu nichts. Er hob den Sack Hundefutter auf und trug ihn wie Myrrhe und Weihrauch und Gold.
    Auf dem Weg zu ihrer Wohnung sagte sie: »Lea.«
    Und er sagte: »Hannes.«
    Sie sagte: »Was man aus Hans alles machen kann.«
    Es herrschte ein Ungleichgewicht zwischen ihnen, sie war forscher, er duckte sich, sie teilte aus und er nahm es hin. An seiner Seite ging der Hund, den der Hunger belebte, der Duft des Trockenfutters erzeugte eine Art Leidenschaft, man konnte es durch die Leine spüren. Es war kalt, es fielen winzige Flöckchen Schnee, die sich auf der Stirn bissig anfühlten, und Jensen begann von den Tulpen zu sprechen, und dass er sich dank Lea wieder erinnert habe, welche Blumen seiner Schwester zuwider gewesen waren. Als nichts kam, redete er weiter, einer musste reden, das Gespräch musste stetig weiterfließen, es handelte sich um die Anästhesie einer verfänglichen Situation.
    Vor der Tür sagte Lea: »Hier ist es.« Sie blickte Jensen an, als sei er ihr heimlich bis zu ihrer Haustür gefolgt.
    »Wir können den Hund auch hier füttern«, sagte er. »Oder ich füttere ihn. Das ist gar kein Problem.«
    Ihr fiel der Hausschlüssel zu Boden, Jensen bückte sich mit ihr, sie stießen zusammen, sie sagte: »Darum geht es nicht.«
    »Um was geht es dann?«
    »Der Hund muss in die Wärme.«
    Sie stiegen die Treppe hoch, im ersten Stock flackerte das Licht. Jensen erreichte in letzter Zeit beim

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