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Er

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Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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einzuschalten.
    Der Dreiklang versetzte etwas in seiner Brust in Schwingung. Eine weitere Nachricht von Lea.
    ICH HABE DICH GEZEICHNET
    Er traute den Großbuchstaben nicht. Die Übertreibung deutete auf eine Lüge hin.
    Das Gift zirkulierte in schmerzenden Bahnen, in seinem Herz, in seinem Kopf. Er fühlte sich krank, verachtete sich für sein Misstrauen und die Unfähigkeit, es zu zügeln. Das Schlechteste in ihm ging mit ihm durch, und es würde ihn ins George and Dragon treiben, zu Moira MacAskill, Craigs Schwester. Er musste sich ihr nur zeigen. Die Schwester konnte alle Mutmaßungen mit einem Blick beenden. Wenn sie die Ähnlichkeit bestätigte, und wenn man dann das alte Papier hinzuaddierte, ergab sich ein Resultat: NEIN. DU HAST IHN GEZEICHNET.
    Es gab noch die matte Hoffnung, dass es nicht so sein würde, aus irgendeinem Grund, weil die Ähnlichkeit objektiv nicht bestand, oder alles auf einem bisher unbekannten Missverständnis beruhte.
    Jensen blickte auf seine Hände.
    Heute Abend gehe ich hin, dachte er.
    Die Aufregung dörrte seinen Mund aus, er trank im Badezimmer Wasser aus dem Hahn. Im Spiegel sah er erschöpfte Altherrenaugen, Lippen, die vor Eifersucht spröde geworden waren, rote Nervositätsflecken über den Wangenknochen. Was zum Teufel machte er hier? Warum lag er nicht neben Lea im Bett und küsste sie und vergab ihr die vergangenen, die gegenwärtigen, die zukünftigen Sünden für eine Berührung ihrer Hand, einen Hauch ihres Atems? Warum lagen ihre weißen, schönen Füße nicht in seinem Schoß? Warum strich er ihr nicht die störrische Strähne aus der Stirn, warum ließ er sich nicht träumend in eine Umarmung fallen, genoss die Leidenschaft, die verschwitzte Nähe, die salzigen Küsse?
    Die Antwort war einfach: Er konnte nicht.
    Er brauchte den Stoff, die Wahrheit, und es war, wie jede Abhängigkeit, widerlich. Die Küsse, die Umarmungen wurden erst durch die Wahrheit zu etwas Wirklichem, aber nicht, weil das so war. Sondern weil er sich dazu entschlossen hatte. Ihm genügten die Küsse nicht, er benötigte ein Stimulans, und das Stimulans war ihm wichtiger als alles andere, auch wichtiger als Lea. Es war Sucht, und wie ein Süchtiger kreisten seine Gedanken nur noch darum, wie er heute Abend an den Stoff rankam. Ein Mindestmaß an Rücksichtnahme wollte er aber noch walten lassen. Craig war tot, damit hatte Jensen gerechnet. Falls die Ähnlichkeit bestand, begegnete die Schwester heute Abend ihrem verstorbenen Bruder, und es war nur anständig, sie darauf vorzubereiten. Jensen wollte sich die Telefonnummer des Pubs in der Rezeption besorgen und hatte die Türklinke schon in der Hand, als jemand klopfte.
    Es war ein Mann. Er starrte Jensen an und ließ einen Autoschlüssel fallen.
    »O mein Gott!«, sagte der Mann.
    Es klärte sich also auf diese Weise, überraschend und nicht erst im Pub von Craigs Schwester.
    »Ich bin nicht Craig«, sagte Jensen. Ihm geschah großes Unrecht. Er hatte das nicht verdient. Das Selbstmitleid trieb ihm das Wasser in die Augen. »Ich heiße Hannes Jensen. Und ich bin kein Toter. Sehen Sie.« Er bewegte die Arme. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin nur hier, weil ich wissen möchte, wer Craig war. Das interessiert mich sehr.«
    »O Gott!«, sagte der Mann erneut. »Was ist das hier für eine Scheiße! Was ziehen Sie hier für eine Scheißshow ab! Sie verdammter Mistkerl! Was soll das! Sie blödes Arschloch!« Er versetzte Jensen einen Schlag gegen die Brust. Seine letzte Kraft investierte er darin. Dann knickte er ein. Er stützte die Hände auf die Knie und war zu nichts anderem mehr fähig als zu atmen. Es hörte sich an, als verlange sein Herz allen Sauerstoff der Welt.
    »Es tut mir wirklich leid«, sagte Jensen. »Ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich so aussehe wie er.«
    Der Mann hustete. Er wischte sich mit dem Ärmel über den Mund.
    »Jetzt wissen Sie’s«, sagte er.
    Es war ein kleines, braunes, schmutziges Büro, eine Wanduhr aus Hawaii tickte unregelmäßig, der Sekundenzeiger hatte sich über einer Palme verklemmt. Calum MacLeod öffnete sein Hemd bis zu den Brusthaaren.
    »Ich kann’s nicht glauben«, sagte er.
    Er stellte eine Flasche Whiskey auf den Schreibtisch.
    »Ich brauch jetzt einen. Sie auch?«
    »Danke. Nein«, sagte Jensen.
    MacLeod goss sich ein Glas voll.
    »Ich trinke um diese Zeit sonst nie«, sagte er. »Darf nicht mehr. Wegen der Pumpe. Aber jetzt brauch ich was. Schauen Sie sich das mal an.« Er ließ seine Hände

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