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Er

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Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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erzähle ich dir, wie es war. Du hast die Zeichnungen vor vier Jahren gesehen. Und vor zwei Wochen hast du mich kennengelernt, auf dem Flughafen. Und ich sah aus wie der Mann auf den Zeichnungen. Es war grotesk, und du hast die richtigen Schlüsse gezogen. Du dachtest, dass Lea sich mit mir nur eingelassen hat, weil ich so aussehe wie dieser andere, den sie dauernd zeichnet. Irgendwas ist da zwischen ihr und dem anderen. Sie kriegt ihn nicht, oder er ist tot, oder er hat sie verlassen. Und Hannes, das ist nur ein Ersatzgockel. Deswegen hast du mir das mit den Zeichnungen erzählt, du wolltest mich warnen. So war das. Und jetzt möchte ich es noch von dir hören.«
    »Wenn du besoffen bist, ist das okay«, sagte Frank. »Es ist zwar erst halb fünf, aber ich hab Verständnis für Leute, die vor dem Abendessen nicht mehr aufrecht gehen können. Willkommen im Club. Aber du solltest jetzt einfach mal für eine Minute die Augen schließen und tief durchatmen. Ich hab die Zeichnungen gesehen, hab ich dir ja erzählt. Aber sie hat keinen Mann gezeichnet. Keinen ganzen jedenfalls.«
    »Was dann! Was hat sie gezeichnet?«
    »Schwänze«, sagte Frank. »Sie hat nur Schwänze gezeichnet. Vierzig, fünfzig Zeichnungen von Schwänzen. Keine Hoden, keine Schamhaare, nur die Schwänze. Aber die lagen da nicht rum. Die standen alle stramm in die Höhe.«
    »Nein«, sagte Jensen.
    »Doch. Sie hat Steife gezeichnet. Ist das überhaupt der richtige Plural dafür? Ich fand das beängstigend. Stell dir vor, du schläfst mit einer Frau, die sich hinterher an den Tisch setzt und steife Schwänze zeichnet. Und meiner war nicht mal dabei. Ich hab sie mir alle angesehen. Sie waren sehr naturalistisch gezeichnet. Aber meiner war nicht in der Sammlung.«
    »Und der Mann?«, fragte Jensen. »Porträts von einem Mann. Von mir. Von einem, der so aussieht wie ich? Hast du solche Porträts gesehen?«
    »Nein. Ich sage doch: Sie war auf Erektionen spezialisiert. Wenn sie jetzt Porträts zeichnet, finde ich das beruhigend. Du solltest dich darüber freuen. Aber jetzt erzähl mal. Was ist bei euch los? Fliegen die Funken? Gab’s in deiner Familie Fälle von Paranoia?«
    Jensen brachte das Schlafzimmer wieder in Ordnung. Er sammelte die Teile auf, in die das Telefon zerfallen war, und setzte sie wieder zusammen. Die Zeichnungen verbarg er im Bildband, so als gehörten sie jetzt ihm, er versteckte sie vor Lea. In der Küche öffnete er eine Flasche Bier und trank sie leer. Auf dem Stuhl am runden Tisch saß er und wartete. Der Hund beschäftigte sich mit einer juckenden Stelle. Ein Lichtlein der Waschmaschine blinkte im Rhythmus von Jensens Puls, den er im Fuß spürte, an der empfindsamen Stelle zwischen Knöchel und Achillessehne. Dort lag das Herz blank.
    Nach einer Weile trug Toni ein Gähnen in die Küche. Barfuß ging sie zum Kühlschrank.
    »Joghurt ist alle«, sagte sie.
    Jensen saß hinter zwei Bierflaschen.
    »Hat er geknurrt?«, fragte sie.
    »Zweimal«, sagte Jensen.
    »Dann ist die Seele jetzt in ihm drin. Ganz schön gruslig. Ich seh den Mann jetzt nicht mehr. Kann gut sein, dass ich ihn nicht mehr sehe, weil er jetzt im Hund drin ist. Es war gut, dass ich ihn auf den Balkon gesperrt hab. Ich versteh was von Geistern. Und wenn du Joghurt kaufst, dann bitte nicht mehr das falsche wie letztes Mal. Das hat scheußlich geschmeckt. Wir mögen nur das Stracciatella-Joghurt von Andechser. Kriegst du in der Bio Company.«
    »Ich weiß«, sagte Jensen. Er hörte das Klirren des Schlüsselbundes.
    »Mama kommt«, sagte Toni. Sie rannte aus der Küche. Jensen hörte sie rufen: »Mama! Ich seh den toten Mann nicht mehr! Darf ich heute ’ne halbe Stunde länger fernsehen?«
    In der Zeit, die bis zur Begegnung mit Lea verging, trommelte Jensen die guten Kräfte zusammen, die Vernunft, die Gelassenheit, die Geduld. Er brachte sie in Reih und Glied. Aber als er Leas Schritte hörte und ihm das Blut in den Kopf schoss, suchten die guten Kräfte ihr Heil in der Fahnenflucht.
    Als sie die Küche betrat, stand er vor Aufregung auf.
    Sie sagte etwas Beschwichtigendes, wie zu einem gereizten Tier, dem man sich vorsichtig nähert.
    »Was ist denn?«, sagte sie. In ihrem Gesicht stritten sich die Sorge und die Reue darum, wer es verdunkeln durfte. »Denkst du immer noch über Craig nach?«
    Den Namen eines Fremden sprach man nicht mit so viel Wärme aus.
    »Wen hast du gezeichnet?«, fragte Jensen in der Gewissheit, dass er alles aufs Spiel setzte. »Ihn oder

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