Er
mich?« Er versuchte, in ihren Augen die Wahrheit zu erkennen. Es war gut, dass er diesmal in Augen blicken konnte, nicht wie bei Annick. Dort hatte er es mit einer dunklen Sonnenbrille zu tun gehabt, und in Sonnenbrillen spiegelte die Lüge sich nicht. In Leas Augen sah er die Reaktion auf seine Frage, es war, als hätte sie eine Explosion verursacht, die den Blick uferlos werden ließ.
»Das ist nicht wahr«, sagte Lea langsam. »Sag mir, dass es nicht wahr ist.«
»Hast du ihn gezeichnet oder mich?«
»Wer hat dir das erlaubt?«, sagte sie. Sie warf den Schlüsselbund ins Spülbecken, ein Weinglas zersprang. »Wer hat dir erlaubt, in meiner Wohnung rumzuschnüffeln!« Sie weinte, und sie schrie: »Ich hab dir vertraut! Ich hab dir meinen Wohnungsschlüssel gegeben! Ich hab dich mit Toni hier allein gelassen! Und du durchwühlst meine Bücher! Du schnüffelst hier rum und suchst meine Zeichnungen! Das ist mein Leben, verstehst du! Mein Leben! Und ich teile es freiwillig mit dir. Freiwillig! Aber nicht so! Nicht, wenn du mir keinen Raum mehr lässt. Ich ersticke, wenn ich daran denke, was du getan hast! Geh raus!«, schrie sie Toni an, die mit offenem Mund auf der Türschwelle stand. »Geh ins Bett!«
»Ich hab ihm gesagt, dass er’s nicht tun darf!«, sagte Toni. Sie weinte. »Ich hab’s ihm zehnmal gesagt. Aber er hat nicht aufgehört!«
Lea nahm Tonis Gesicht in beide Hände. »Entschuldige, Schätzchen. Ich wollte dich nicht anschreien. Es tut mir so leid.«
»Er soll gehen«, sagte Toni. »Ich will nicht mehr, dass er hier ist. Ich will mit dir sein. Das ist viel besser für mich.«
»Ja, er geht«, sagte Lea. »Er geht gleich. Wein nicht mehr. Es ist alles gut, Schätzchen. Alles ist gut. Wir schließen jetzt die Augen. Ich schließe die Augen und du auch. Und wenn wir die Augen wieder öffnen, ist er nicht mehr hier.«
Sie schlossen die Augen.
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25
S IE HATTE SEINE FRAGE nicht beantwortet. Und nun, drei Tage später, lag er in einem Hotelzimmer in Ullapool auf dem Bett. Die Minibar war schwach, sie entzog dem Dosenbier, das er nachmittags gekauft hatte, die Wärme nicht. An den Wänden hing dreimal derselbe Kunstdruck, ein Pferd vor Birken. Jensen hatte versucht, zwei der Bilder abzuhängen, aber sie waren fest verdübelt. Die dreimalige Wiederholung desselben Bildes verlieh dem Zimmer den Charakter einer Wahnvorstellung. Draußen vor dem Fenster zur Bucht trieb der Wind Wolken am Mond vorbei. Das Bier schmeckte säuerlich, und manchmal rann es Jensen übers Kinn.
Ich habe sogar Sehnsucht nach dir, wenn ich dich küsse.
Ihre Worte.
Du tust mir gut.
Sie hatte es ihm ins Ohr geflüstert.
Sie steckte ihm den Finger ins Nasenloch, lachte, wenn es ihm angenehm unangenehm war.
Ihr offenes Lachen, wie eine Entblößung ihres Innersten, und er sah da nur Licht und Gold und Gewissenhaftigkeit. Sie verbarg nichts vor ihm, wenn sie lachte.
Wie konnte es also sein?
Die Zeichnungen waren jahrealt. Seit Jahren zeichnete sie diesen Mann, und dann lernt sie mich kennen, dachte Jensen. Und sie verschwieg ihm die Ähnlichkeit mit Craig. Darin lag das Gift. Seit drei Tagen keine Nachricht von ihr. Keine Mail, keine SMS, schon gar kein Anruf.
Aber auch er meldete sich nicht. Er war unterwegs nach Lewis, und es war besser, wenn sie es nicht erfuhr. Ein unangemeldeter Besuch brachte größere Klarheit.
Er war fast sicher, dass Craig tot war. Sie hatte ihn gezeichnet, weil sie ihn liebte, der Tod hatte sie voneinander getrennt, und dann kam ich, dachte Jensen.
Alle drei Pferde auf einmal zu sehen war unmöglich, aber man konnte sich vorstellen, wie unerträglich es gewesen wäre.
Am nächsten Morgen frühstückte er auf der Fähre, die noch im Hafen lag. Die Wellen brandeten gegen den Quai, zwei Männer, die am anderen Tisch Tee tranken, sagten zueinander: »Knapp wird’s. Aber wir kommen noch rüber.«
Die Fähre stach in See, und die Passagiere betteten sich auf die Sitzbänke. Sie zogen die Beine dicht an den Körper, verschränkten die Arme, bildeten Reihen dösender Embryos in Windschutzjacken. Jensen begriff, dass sie sich klein machten, um dem Wellengang eine möglichst geringe Angriffsfläche zu bieten. Er selber saß zunächst eine Weile noch aufrecht. Die Fähre schwankte aber nicht auf und ab, nicht hin und her, sondern sie eierte. Das Frühstück in Jensens Magen verlor die Orientierung und wollte zum Ausgang. Jensen legte sich nun hin wie die Einheimischen, und die Übelkeit wurde
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