Erbe des Drachenblutes (German Edition)
Alles stimmt mit der Realität überein. Dennoch ist alles … falsch.«
Janice nickte kurz, und Mina fuhr fort: »Ich meine, es ist Nacht und dennoch erkenne ich jeden Grashalm, als wäre es helllichter Tag.« Auf ihren Oberarmen bildete sich Gänsehaut. Unbewusst verschränkte sie die Arme vor der Brust, als sei ihr kalt. »Nun, auf jeden Fall steht dort jemand … oder besser gesagt, etwas .« Sie lachte kurz auf und schüttelte vehement den Kopf. »Es ist albern, aber in meinem Traum sehe ich dort ein … ein Einhorn! Es ist genauso, wie man es sich vorstellen würde. Sein leuchtender Schweif schwingt langsam hin und her, und seine Mähne glänzt blendend weiß im Mondlicht. Wie hypnotisiert von der Schönheit laufe ich aus dem Haus heraus, genau zu dem Wesen, und gerate so in eine Falle.«
»Was für eine Falle?« Mina schaute Janice direkt an. »Alles ist eine Falle, verstehst du? Das wird mir aber in meinem Traum erst zu spät bewusst. Die Schönheit des Einhorns macht mich blind für die Gefahr, die dort lauert. Ich gehe hin und will es berühren, dann passiert etwas! Etwas, was mich aus meiner Welt entrückt und mich in die Ewigkeit stürzt.«
Sie schwieg und starrte auf den Boden. Nach einigen Momenten erkannte Janice, dass die Erzählung hier endete. Aber ihr fiel einfach nichts ein, womit sie die entstehende Stille durchbrechen könnte. Sie blickte auf den Wecker neben dem Bett und schluckte. »Oh je, schon so spät.« Sie drehte sich zu Mina. »Bitte verstehe das jetzt nicht falsch, aber vielleicht sollten wir uns morgen nach der Schule noch einmal ausführlich über deinen Traum unterhalten. Wenn ich morgen wieder zu spät zum Unterricht erscheine, zieht mir meine Mutter die Hammelohren bis zur Zimmerdecke. Abgesehen davon gibt es sicherlich eine ganz normale Erklärung dafür, dass dir der Traum den Schlaf raubt.«
»Klar«, lachte Mina, »mein ganzes Leben ist eine normale Erklärung !« Die letzten zwei Wörter trieften von Sarkasmus. Sie schnaufte unwillig. »Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich einfach nicht hierhergehöre.«
»Blödsinn!«, sagte Janice und verzog das Gesicht. »Jetzt komm mir nicht mit der armen-Waisenkind-Masche. Klar, du magst ja vielleicht nicht wissen, wo deine Wurzeln liegen, aber du bist schon als Baby in einer genialen Familie gelandet und bekommst jederzeit alles, was du willst. Was soll ich denn da sagen? Meine Mutter kann mit Mühe die Miete zusammenkratzen. Und du weißt, dass mein Vater sich verdrückt hat, als ich gerade acht Jahre alt war.«
»Du verstehst überhaupt nicht, worum es geht«, gab Mina zurück. »Du hast etwas, was ich nie besitzen werde: Deine Mutter liebt dich! Meine Eltern lassen mich ständig merken, dass es meine Pflicht und Schuldigkeit ist, ihre Zuneigung mit schulischen und beruflichen Erfolgen zu quittieren. Und das tue ich auch! Ihnen zuliebe. Und du? Deiner Mutter reicht es doch, wenn du einfach glücklich und gesund bist. Würdest du wirklich mit mir tauschen wollen?«
Janice zögerte. Was sollte sie darauf erwidern? Sie kannte ihre Freundin schon so viele Jahre, dass sie ihr Leben in- und auswendig herunterbeten konnte. Deshalb musste sie sich eingestehen, dass Mina recht hatte. Sie bekam so viel von ihren Adoptiveltern: eine vorbildliche Berufsausbildung, ein wunderbares Auto, unbegrenztes Taschengeld, Auslandsaufenthalte und vieles mehr. Von all dem konnte ein normaler Teenager nur träumen. Aber Liebe? Na ja, das war sicherlich Auslegungssache.
Janice war die Richtung, die ihr Gespräch eingeschlagen hatte, unangenehm. Mina bemerkte es, nahm sich ein Herz und räusperte sich. »Ja, ich denke, du hast schon recht: Es ist echt spät geworden. Lass uns morgen noch mal reden.«Unverblümt erleichtert lächelte Janice. »Super! Und dann werde ich jedes Detail deines Traumes so lange mit dir auseinandernehmen, bis wir keine Rätsel mehr darin finden. Und dann wird es dir auch wieder besser gehen!«
v v v v v
Wenige Minuten später lief Mina eine leere Straße entlang. Kein Mensch war mehr unterwegs, weder zu Fuß noch mit dem Auto. Das kleine Dorf, das Mina ihr Zuhause nannte, wirkte das ganze Jahr über so, als läge es in einem Winterschlaf. Es lag inmitten eines Waldes, und die einzige Hauptstraße wurde nur von alten Straßenlaternen bewacht. Die wenigen Nebenstraßen erinnerten mit ihrer holprigen Pflasterung an die guten, alten Zeiten der Pferdefuhrwerke. Dazu passten die vielen Fachwerkhäuser, deren dunkles Balkenwerk
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