Erbe des Drachenblutes (German Edition)
lange, rote Mäntel, die mit aufgestickten Runen verziert waren, standen am Rande eines kleinen Wasserbeckens. Das Becken war auf einem Podest in der Mitte des Raums platziert, nur beleuchtet vom flackernden Kerzenlicht. Einer der Männer tauchte einen Zeigefinger hinein und beobachtete die entstehenden Wellenringe. Sein grauweißes Haar umspielte die von Sorgenfalten entstellte Stirn. Der zweite Mann, dessen blasser Schädel vollkommen rasiert war, griff in einen samtenen Beutel und holte einige Knochensplitter heraus. Feine, mit Gold und Silber ausgegossene Linien überzogen jeden davon. »Und selbst dann ist es nicht sicher, dass die Welt sich wandeln wird und wir gerettet werden«, fügte er hinzu. Seine raue, dunkle Stimme erinnerte an das Geräusch von aneinander geriebener Baumrinde. Er wog die Knochensplitter bedeutungsvoll in der Hand, dann warf er sie ins Wasser. Die meisten sanken direkt auf den Grund, doch einige schwammen obenauf.
»Gratuss, wie sicher seid Ihr Euch?« Eine hochgewachsene Frau trat aus dem Schatten einer Säule heran. Ihre schlanke Gestalt wurde von einem langen, nebelgrauen Mantel umspielt, ihr Gesicht lag halb verborgen unter einer tiefgezogenen Kapuze.
»Meine Herrin, ich bin mir so sicher, wie ich es sein kann! Wir haben alle uns bekannten Deutungen ausprobiert, und alle zeigten uns das gleiche Ergebnis.«
»Gratuss und Enag, ich frage Euch beide, worin mag der Sinn unseres Lebens bestehen?«, flüsterte sie leise.
»Herrin?«, fragte der Ältere irritiert nach, »was meint Ihr?«
Die Frau schlug die Kapuze so weit nach hinten, dass der Stoff an ihrem Haaransatz ruhte und man deutlich ihre feingeschnittenen Gesichtszüge erkennen konnte. »Das Wohl des Volkes war mir stets wichtiger als mein eigenes. So war es schon bei meiner Mutter und all den anderen Regentinnen vor ihr. Dennoch frage ich mich, ob wir immer die richtigen Entscheidungen getroffen haben. Hätten wir es besser machen können, um unser Volk zu schützen?« Sie neigte ihr Haupt. »Ich spüre große Gefahren auf uns zukommen, und die meisten sind daraus entstanden, dass es uns allen zu lange zu gut ging. Ich sehe Schatten am Rande unserer Existenz, nur weiß ich nicht, wie ich sie vertreiben kann.« Besorgt drehte sie ihren Kopf zur Seite.
Gratuss trat auf sie zu. »Herrin, wir Runenleger sind uns sicher, genauso wie die Sternendeuter: Die einzige Chance, die den friedliebenden Völker geblieben ist, ist dieses Kind! Es muss kommen und uns erretten. Das Kind wird einen Weg finden, wenn es so weit ist.«
»Dennoch, die Rettung wird ihren Preis haben«, ergänzte Enag. Das Kerzenlicht glänzte auf seinem polierten Schädel.
Gratuss schüttelte den Kopf. »Finden wir das Kind nicht, wird die Finsternis kommen und uns verschlingen! Das Kind kann möglicherweise einen Einklang zwischen Schwarz und Weiß finden.«
Die Frau legte ihre Hände an die Seiten der Kapuze und ließ sie mit einem Ruck ganz nach hinten fallen. Blendend weißes Haar kam zum Vorschein, das im deutlichen Gegensatz zu den jugendlichen Gesichtszügen stand. Ihr stechender Blick ruhte auf Gratuss. »Wenn man Schwarz und Weiß mischt, entsteht Grau und die Grundfarben gehen darin unter. Ist das der Preis, von dem Ihr sprecht? Wir geben unsere Identität auf, um etwas Neues zu erschaffen?«
Eine kurze, betretene Stille entstand, dann antwortete Gratuss: »Möglicherweise müssen wir uns wandeln, damit unsere Kinder eine Zukunft haben. Ja, Regentin, ich glaube, dass wir nicht mehr nach unseren alten Maßstäben zwischen Schwarz und Weiß – zwischen Gut und Böse – unterscheiden dürfen, aber niemand wird wahrlich dazu fähig sein, das zu ändern. Niemand, außer dem prophezeiten Kind!«
Gedankenverloren schaute sie in das Wasserbecken, von dem die Runenleger behaupteten, darin die Zukunft sehen zu können. »Es muss aus meiner Blutlinie stammen, nicht wahr?«
Die Männer schwiegen. Etwas Schwermütiges hing in der Luft. »So gesehen gibt es ein Problem, wie Ihr wisst. Mein einziges Kind ist tot. Es wäre das dreizehnte aus Lians Blutlinie gewesen. Außerdem ist es kein Geheimnis, was mir die Heiler gesagt haben: dass ich nie wieder ein Kind empfangen kann.«
»Ja, Herrin, Euer Kind wurde uns genommen«, stimmte Enag zu, »nichtsdestotrotz sagen die Runen, dass es Hoffnung gibt. Ich kann es nicht erklären. Euer schwerer Verlust konnte das Muster der Runen nicht verändern, und die Runen lügen nie. Es wird der Tag kommen, da werden wir eine
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