Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
am Montagmorgen abgesagt. Schon wieder! Aber wenn Sie glauben, dass Sie nun mit Ihrem erotischen Archäologen ein bisschen länger im Bett bleiben können, muss ich Sie leider enttäuschen. Vor ein paar Minuten ist eine Miss Rachel Locklear hereinmarschiert gekommen und wollte eine Therapeutin sprechen. Also habe ich Initiative gezeigt und ihr den frei gewordenen Termin gegeben. Ich weiß, es gibt da eine Warteliste, aber es war schon zu spät, um noch groß herumzutelefonieren. Ich hoffe nur, dass sie erscheint … Sie gehörte nicht zu Ihren üblichen gehobenen Akademikern, wenn Sie wissen, was ich meine. Dann also noch einmal alles Gute zum Geburtstag und ein schönes Wochenende.«
Madeleine lächelte vor sich hin. Wo wäre sie ohne die berühmte Entschlussfreudigkeit ihrer Sprechstundenhilfe? Wohl kaum im Bett mit dem ständig durch Abwesenheit glänzenden Gordon!
Der sechsunddreißigjährige Gordon Reddon war fast sieben Jahre jünger als Madeleine. Verschlimmert oder verbessert – Madeleine wusste nicht recht, wofür sie sich entscheiden sollte – wurde die Sache noch dadurch, dass seine Erscheinung und sein Verhalten zusätzlich etliche Jahre jünger wirkten. Sie gab sich Mühe, sich nicht geschmeichelt zu fühlen und um Gottes willen erst recht nicht dankbar, aber ein wenig zufrieden mit sich selbst war sie doch.
Eine Stunde, nachdem sie heimgekommen war, den ekelhaften Gefängnisgeruch abgeduscht und ein schlichtes schwarzes Kleid übergezogen hatte, kombiniert mit einer vernünftigen wollenen Strumpfhose und kniehohen Stiefeln, klingelte er an der Tür. Sie ließ ihren Blick über ihn gleiten, wie er im Schein der gelben Straßenbeleuchtung vor ihr stand. Er war zweieinhalb Zentimeter kleiner als sie, aber das machte ihr nichts aus. Für einen Mann mit einem so nüchternen Beruf war er bemerkenswert eitel. Sein durchtrainierter Körper steckte in schwarzen Jeans, und er trug ein tailliertes Hemd in einem blassen Dunkelrosa sowie einen Gürtel und Schuhe, die beide teuer wirkten. Darüber hatte er einen schwarzen Regenumhang drapiert.
»Alles Gute zum Geburtstag«, begrüßte er sie lächelnd und zog einen kleinen Strauß gelber Rosen hinter seinem Rücken hervor. »Du hast es mir gesagt.«
»Ja, nun … Ich bin keine dieser älteren Frauen, die ihren Geburtstag hassen. Jedes vollendete Jahr ist ein Triumph der Ausdauer und der Kunst des Überlebens. Warum soll man das nicht feiern?« Sie gab ihm ein Küsschen auf den gestylten Drei-Tage-Bart und ließ ihn eintreten.
»Du bietest einen erfreulichen Anblick.« Lachend legte Gordon ihr den Arm um die Taille. »Ich kann gar nicht glauben, dass du älter wirst, und zwar älter als ich.«
Das war etwas mehr, als ihr lieb war. Sie löste sich aus seinem Arm und führte ihn ins Wohnzimmer. »Wohin führst du mich aus?«
Er grinste. »Wohin du willst. Hol uns ein Bier, Schatz.«
Mit einem leichten Stirnrunzeln ging sie in die Küche, während Gordon an das große Gemälde herantrat, das im Wohnzimmer an der Wand lehnte. Es war das letzte ihrer »Höhlenserie«, Madeleine hatte es aus ihrem Dachatelier heruntergetragen, um vom Sofa aus über seine Stärken und Schwächen nachzugrübeln. Wenn sie genug getrunken hatte, brachte sie sogar die nötige Distanz für eine kritische Bewertung ihrer entfesselten Malereien auf.
»Was malt meine Lieblingsmyrmekologin denn gerade?«, rief Gordon ihr zu.
Lächelnd stellte sie sich vor, wie er seinen Kopf in verschiedene Richtungen neigte, um aus den Ameisen klug zu werden, die fieberhaft in eine offenbar riesige Höhle hinein- und dann wieder aus ihr herauszulaufen schienen. Sie konnte es ihm nicht verübeln, denn sie wusste, dass er sich nicht sonderlich für moderne Kunst interessierte. Er war jedoch stets bereit, wenn sie sich die Mühe machen wollte, ihren ausführlichen Erklärungen mit wirklichem Interesse zuzuhören. Das einzige Thema ihrer Gemälde, Ameisen, hatte ihn von Anfang an fasziniert.
»Wie du sehen kannst«, erklärte sie ihm von der Küche aus, »sind es einfach Arbeiterinnen auf ihrem Weg von und zur Arbeit. Hauptverkehrszeit bei den Ameisen.«
»Sind das gigantische Monsterameisen, oder bewegen sie sich nur in einem winzigen Riss in einem Bürgersteig, dem du das Aussehen einer Höhle verliehen hast?«
»Womit würdest du dich wohler fühlen?«
»Um Himmels willen«, stöhnte er lachend. »Wird gerade mein Kopf untersucht? Ich wette, das hat etwas mit irgendeinem Komplex zu tun, den ich wegen
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